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Zehn Jahre nach Fukushima: Gesundheitliche Folgen nicht gänzlich abschätzbar

Dienstag, 2. März 2021

/picture alliance, ASSOCIATED PRESS, Ichiro Ohara

Berlin – Fast zehn Jahre nach dem Reaktorunglück im japanischen Fukushima kritisieren Ärzte eine man­gelhafte Untersuchung der gesundheitlichen Folgen. Viele Fragen würden weiterhin nicht ausreichend in Studien untersucht, sagten zwei Vorsitzende der Ärzteorganisation IPPNW auf einer Pressekonferenz.

„Bisher wurde in Fukushima nur eine einzige Krankheitsentität bei Menschen systematisch untersucht: Schilddrüsenkrebs“, erklärte der deutsche IPPNW-Vorsitzende Alex Rosen. Dafür gebe es seit 2011 alle zwei Jahre Ultraschallscreenings bei den Kindern der Präfektur. Dabei wären in den vergangenen drei Untersuchungsrunden 20 Mal mehr Krebsfälle gefunden worden, als man aufgrund der Basis­inzidenz hätte erwarten können, so der Kinder- und Jugendmediziner.

Die meisten dieser Fälle seien in den am schwersten verstrahlten Gebieten aufgetreten. Besonders be­troffen seien Kinder, die zum Zeitpunkt der Kernschmelze im Jahr 2011 noch im Mutterleib waren. Rosen bemängelte zudem, dass die Studien keine Kontrollkohorten eingeschlossen hätten. Trotzdem sei der An­stieg sehr wahrscheinlich kein reiner Effekt der verstärkten Suche nach Schilddrüsenknoten und -zysten.

Andere Erkrankungen, wie beispielsweise Leukämien oder Fehlbildungen, die mit einer erhöhten Strah­len­­belastung in Verbindung gebracht werden, seien nicht untersucht worden, kritisierte er. Auch habe es keine epidemiologischen Longitudinalstudien bei Erwachsenen gegeben.

Besser als die somatischen Folgeerkrankungen seien die psychosozialen Auswirkungen der Atomkatas­trophe untersucht worden, ergänzte Angelika Claussen, die Europavorsitzende der IPPNW. „In den ver­strahlten Gebieten ist die Rate an Depressionen, Suizidalität und Posttraumatischen Belastungs­störun­gen weiterhin erhöht“, sagte die Psychiaterin und Psychotherapeutin.

Dabei gebe es eine direkte Korrelation zwischen dem Außmaß der radioaktiven Belastung und dem psy­chosozialen Stress der Bevölkerung. Doch seien die psychischen Belastungen allein mithilfe von Frage­bögen erfasst worden. Klinische oder psychologische Untersuchungen habe es nicht gegeben, bemän­gelte sie.

IPPNW sieht japanische Regierung in der Verantwortung

Verantwortlich für die mangelhafte Studienlage sei, nach Meinung der beiden IPPNW-Vorsitzenden, auch die japanische Regierung. Sie habe direkt nach der Reaktorschmelze die Verteilung von Jodtabletten ak­tiv unterbunden. Ein Bürgermeister habe sich dem widersetzt und sei dafür zur Rechenschaft gezogen worden. Dies sei auch von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Opposition im japanischen Parlament kritisiert worden.

Dabei sei nicht nur die Präfektur Fukushima von erhöhter radioaktiver Strahlung betroffen gewesen, sondern auch andere Regionen Japans. Dort gebe es jedoch bis heute keinerlei Studien zu den gesund­heit­lichen Auswirkungen der Reaktorkatastrophe.

Auch einer Empfehlung der internationalen Krebsagentur (IARC), ein spezielles Krebsregister aufzu­bau­en, um die Langzeitfolgen der Strahlung zu dokumentieren, sei nicht gefolgt worden. Ebenso fehle ein Register über Fehlbildungen bei Neugeborenen.

Was war passiert?

Am 11. März 2011 erschütterte ein Erdbeben den Meeresboden vor der nordöstlichen Küste Japans. Zwei Tage später folgte in derselben Region das stärkste Seebeben in der japanischen Geschichte mit einer Stärke von 9,0 auf der Momenten-Magnituden-Skala. Die resultierende Tsunamiwelle erreichte wenige Stunden später das älteste Kernkraftwerk des Instelstaats in Fukushima und beschädigte mehrere Reak­toren. Die ausgetretene radioaktive Strahlung verseuchte daraufhin weite Teile der Region und wurde in den folgenden Tagen in weite Teile des Landes verteilt.

Direkt durch das Erdbeben und den folgenden Tsunami kamen nach Angaben der japanischen Katastro­phen­managementbehörde 19.630 Menschen ums Leben. Weitere 2.000 Todesfälle werden laut dem BfS inzwischen allein in der Präfektur Fukushima zu den langfristigen Folgen der Evakuierung gezählt.

In japanischen Geburtenregistern falle jedoch eine erhöhte Perinatalmortalität und -morbidität auf, er­läuterte der Kinderarzt Rosen. Auch habe es etwa zehn Monate nach dem Leck des Atomkraftwerks einen kurzfristigen starken Anstieg stark untergewichtiger Neugeborener gegeben. Eine Kausalität könne nur vermutet werden, sei aber hochwahrscheinlich, so Rosen.

Hinzu komme, dass auch die Gesundheit der Aufräumarbeiter, die in den noch immer strahlenbelasteten Gebieten eingesetzt werden, nicht systematisch untersucht und in Studien begleitet werde, kritisiert die IPPNW. Sie seien oft über eine Kette von Subunternehmen angestellt, sagte Claussen.

Die internationale Ärzteorganisation hat nach eigenen Angaben mehr als 300 Studien ausgewertet, da­runter mehr als 70 Studien zu Folgen für Menschen und Umwelt.

Dekontamination und Rückkehr

Noch heute ist ein Gebiet von der Fläche Münchens, etwa 300 Quadratkilometer, Sperrzone, sagte Inge Paulini, Präsidentin des Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS), auf einer Pressekonferenz anlässlich des zehnten Jahrestags der Fukushima-Katastrophe. Dort liege die zusätzliche Strahlendosis mancherorts noch bei mehr als 20 mSv (Millisievert) pro Jahr.

Zumindest die Dekontaminationsarbeiten kämen aber voran: Inzwischen seien etwa 20 Millionen Tonnen radioaktiv verstrahlter Abfälle abgetragen worden, so Paulini. So sei die Strahlenbelastung dort um 20 bis 80 Prozent verringert worden. Neben den Aufräumarbeiten trage der radioaktive Zerfall des freige­setz­ten Cäsium-137 zur Abnahme bei. Auch sei ein Teil der Kontamination witterungsbedingt tiefer in die Böden eingedrungen.

Bis zum Ende des Jahres 2020 seien 26 Prozent der evakuierten Menschen in ihre Wohnorte zurück­ge­kehrt. Insgesamt hatten rund 160.000 Menschen ihre Heimat verlassen müssen, etwa 110.000 davon allein aufgrund der Strahlung.

„Krebserkrankungen durch ionisierende Strahlung haben lange Latenzzeiten“, erläuterte sie. Daher könne es noch keine abschließende Bewertung der gesundheitlichen Folgen geben.

„Heute gibt es außerhalb der Sperrzone kein akutes Gesundheitsrisiko“, erklärte Paulini. Die zusätzliche Strahlenbelastung liege dort um 0,5 mSv (Millisievert) höher als vor der Reaktorschmelze. In den ande­ren Präfekturen sei der Wert um etwa 0,1 mSv angestiegen.

Damit lag die jährliche Strahlendosis, nach Informationen des BfS, in den am stärksten betroffenen, aber bereits wieder freigegebenen Gebieten 2020 bei bis zu 2,6 mSv. Zum Vergleich: In Deutschland misst die natürliche Strahlenbelastung etwa zwei mSv pro Jahr.

Doch auch in Deutschland hat die Reaktorschmelze in Fukushima zu Veränderungen geführt. Nicht bei der Strahlenbelastung, aber im politischen Denken. So wurde infolge dessen der Atomausstieg bis 2022 zum politischen Konsens. Noch im Jahr 2021 sollen drei deutsche Reaktoren abgeschaltet werden, im darauffolgenden Jahr die letzten drei.

Auch habe das BfS seine Notfallpläne aktualisiert, seinen Vorrat an Jodtabletten aufgestockt sowie das neue radiologische Lagezentrum eingerichtet, das im Falle eines Reaktorunglücks in einem der Nachbar­länder koordinierende Aufgaben zur Krisenreaktion übernimmt. © jff/aerzteblatt.de

Kommentare

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Avatar #103607
akoerblein
am Donnerstag, 4. März 2021, 19:16

Es gibt durchaus Studien zu gesundheitlichen Folgen von Fukushima

Anders als im Artikel erwähnt, gibt es durchaus Studien zu gesundheitlichen Folgen des Reaktorunfalls von Fukushima in den hauptbetroffenen Präfekturen:
Zur Perinatalsterblichkeit:
Scherb H et al. 2016: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/27661055/
Körblein A et al. 2017: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/28632136/
Körblein A et al. 2019: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/31357178/
Zu untergewichtigen Neugeborenen:
Körblein A 2020: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/33239016/
Zum Geburtenrückgang in Japan 9 Monate nach Fukushima:
Körblein A 2021: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/33630835/
Ich frage mich, warum diese Studien nicht erwähnt wurden.
Dr.rer.nat. Alfred Körblein, Nürnberg


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