Politik
Menschen mit Behinderung: Probleme bei Assistenz in Kliniken, Vergessen in der Coronakrise
Montag, 1. März 2021
Berlin – Menschen mit Behinderung sollen einen geregelten Anspruch auf Assistenz haben, wenn sie im Krankenhaus behandelt werden. Auch werden Menschen mit Behinderung in der Coronapandemie oft nicht genug beachtet. Auf beides hat der Behindertenbeauftragten der Bundesregierung, Jürgen Dusel (SPD), aufmerksam gemacht.
„Ich finde das ist auch eine Frage unseres Wertesystems, dass Menschen mit Behinderungen im Krankenhaus eine Assistenz erhalten“, sagte Dusel. Noch werden insbesondere Heimbewohnern keine Assistenzleistungen in Kliniken finanziert. Das Thema sei seit Jahren bekannt, dass es immer noch keine Lösung gibt, sei „kein Ruhmesblatt der Bundesregierung“.
Die Folgen seien gerade in der Pandemie dramatisch. „Wenn die Leute ins Krankenhaus kommen, treffen sie auf Pflegekräfte, die sowieso schon am Limit sind“, sagte Dusel. Die Betroffenen seien verängstigt, teilweise würden notwendige Operationen verschoben.
Das Bundessozialministerium hatte zu dem Thema einen Beteiligungsprozess initiiert. Aktuell werden die weiteren Schritte überlegt – das Ministerium werde sich „zeitnah dazu verhalten“, heißt es von dort. Aus Sicht Dusels sollte das Problem dringend noch in dieser Legislaturperiode gelöst werden.
Dusel zeigte sich zudem besorgt zur Lage von Menschen mit Behinderung in der Pandemie. Er beobachte auch die aktuelle Tendenz, bestimmte Berufsgruppen vorzuziehen, mit Skepsis: „Bei allem Verständnis für bestimmte politische Entscheidungen, dürfen jetzt nicht wieder Menschen mit Behinderungen das Nachsehen haben.“
In der Impfverordnung kämen etliche Menschen gar nicht vor, weil es nicht genügend Daten für schwere Verläufe gebe. Sie könnten zwar eine Einzelfallentscheidung beantragen – die Voraussetzungen dafür seien jedoch je nach Bundesland unterschiedlich. „Da braucht es jetzt ein Gesamtkonzept und einheitliche Regeln“, forderte Dusel.
Etliche Betroffene isolierten sich seit Monaten zuhause, weil sie um ihr erhöhtes Risiko bei einer Infektion mit dem Coronavirus wüssten: „Das ist eine große psychische Belastung für die Menschen.“
Der Inklusionsaktivist Raul Krauthausen formuliert es drastischer: „Die Nerven liegen blank“. Er erzählt von fehlenden Desinfektionsmitteln zu Beginn der Pandemie. Von fehlenden Testmöglichkeiten für Menschen mit Behinderung und deren Betreuern vergangenes Jahr. Von mangelnder Berücksichtigung bei den Impfplänen. Sein Fazit: „Da könnte man schon fast von Boshaftigkeit ausgehen, wenn das wiederholt vergessen wird.“
Krauthausen sagte, er sei seit letztem März in Selbstisolation. „Ich gehe nur noch zum Spazieren raus, aber treffe mich mit niemanden.“ Weil er ein kleines Lungenvolumen habe, wolle er auf keinen Fall eine Infektion mit dem Coronavirus riskieren. Ein absehbarer Ausweg aus der aktuellen Situation sei das Impfen – doch einen Impftermin habe er trotz Bemühungen noch nicht bekommen.
Den Vorwurf, die Betroffenen vergessen zu haben, will die Bundesregierung nicht auf sich sitzen lassen. Das Sozialministerium betont, ihre Belange im Blick zu haben. Man sei im ständigen Austausch mit Verbänden und Organisationen. Es gebe etwa finanzielle Unterstützungen bei Tests bei stationärer und ambulanter Betreuung.
Außerdem sollen zeitnah Schutzmasken aus Bundesbeständen an Angebote der Behindertenhilfe versendet werden. Und bei der Ausarbeitung der Impfverordnungen verweist das Gesundheitsministerium auf die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO).
In den Empfehlungen werden allerdings nur Personengruppen abgebildet, für die es genügend wissenschaftliche Daten zur Ansteckung und zum Krankheitsverlauf gibt. Studien gab es etwa zu Menschen mit Trisomie 21 und auch zu Menschen mit geistigen Behinderungen, wie aus den STIKO-Empfehlungen hervorgeht.
Sie sind in die zweithöchste Prioritätsstufe aufgenommen worden. Menschen mit seltenen Diagnosen sollen laut Impfverordnung zwar mit Attest auch vorrangig zum Zug kommen können – in der Praxis haben es Querschnittsgelähmte und viele andere Betroffene aber schwer, das durchzusetzen.
Krauthausen meint: „Diese Menschen jetzt dafür zu bestrafen, dass sie so wenige sind, ist schwierig.“ Insbesondere Menschen, die selbstbestimmt zu Hause leben, und nicht in einer Einrichtung der großen Wohlfahrtsverbände, hätten keine Lobby.
Allgemein schränkt die Pandemie die Möglichkeiten zur sozialen Teilhabe stark ein, wie die Geschäftsführerin des Bundesverbands für körper- und mehrfachbehinderte Menschen (bvkm), Janina Jänisch, erzählt. Therapien könnten nicht fortgeführt werden, Einrichtungen seien geschlossen, die Mobilität sei eingeschränkt.
„Und viele Menschen mit Behinderung erleben die Situation als bedrohlich und reagieren mit Ängsten oder sogar Depressionen.“ Die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Verena Bentele, fügt hinzu: „Es wird viel zu wenig bedacht, dass sie alle wichtigen Informationen rund um die Pandemie in barrierefreier Form brauchen, weil sie diese sonst einfach nicht hören, sehen oder verstehen können.“
Und die Impfsituation verstärkt die Probleme. Es gebe beispielsweise Kinder, die mit lebensverkürzenden Erkrankungen leben, sagt Dusel. Für die gebe es aber keinen Impfstoff – und laut Impfverordnung könnten derzeit nur zwei Kontaktpersonen geimpft werden.
„Das ist fernab jeder Lebensrealität in den Familien und entspricht auch nicht der STIKO-Empfehlung. Der Personenkreis muss erweitert werden.“ Für Personen mit Assistenzbedarf stelle sich auch die praktische Frage: „Was ist, wenn meine Assistenz infiziert ist?“, sagt Krauthausen.
Das kann langfristige gesellschaftliche Folgen haben. Krauthausen erzählt von dutzenden Nachrichten am Tag, die er von Betroffenen erhalte, „die inzwischen jedem misstrauen“. Diese Menschen blickten mit vollkommenen Unverständnis auf die aktuellen Lockerungsdebatten, während sie immer noch auf ein Impfangebot warten müssten. Dusel sagt: „Wenn die Betroffenen sich vom Sozialstaat verlassen fühlen, dann haben wir ein Demokratieproblem.“ © dpa/aerzteblatt.de

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