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Politik

Kampf gegen sexuelle Gewalt: Mehr Engagement gefordert

Mittwoch, 10. März 2021

Der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) Johannes-Wilhelm Rörig. /picture alliance, Gregor Fischer

Berlin – Kritisch bewertet der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) das Engagement der Politik im Kampf gegen sexuelle Gewalt. „Die Politik reagiert nur, ist nicht proaktiv genug und tut nur ein Minimum von dem was möglich wäre – die Erwartungen der Betroffenen wurden enttäuscht“, sagte Johannes-Wilhelm Rörig bei der Fachtagung zum „Auswertungsprojekt Briefe“ gestern.

Man habe der Politik viel „abgerungen“, wie die Beteiligung der Betroffenen von sexueller Gewalt, den Aufbau von Strukturen zur Aufarbeitung, die dauerhafte Einrichtung der Stelle des UBSKM, „um die Träg­heit der Politik zu überwinden“, erklärte Rörig.

Politik in Bund und Ländern müsse sich noch viel konsequenter dem Kampf gegen sexuellen Missbrauch und seinen Folgen stellen und ihn „als nationale Aufgabe von größter gesellschaftspolitischer Dimen­sion begreifen“, forderte Rörig, der zum Ende dieser Legislaturperiode das Amt des UBSKM abgeben will.

Nach Bekanntwerden der Fälle von sexuellem Missbrauch am Berliner Canisius-Kolleg und anderen Ins­ti­tutionen im Jahr 2010 und dem darauffolgenden Aufschrei in Gesellschaft und Politik initiierte das Bun­desfamilienministerium mit der damaligen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmiss­brauchs, Christine Bergmann, die Kampagne „Sprechen hilft!“. Deren Ziel es war, Betroffene zu ermuti­gen, sich ihrer Telefonischen Anlaufstelle anzuvertrauen, um dort Hilfe zu erhalten.

Viele tausende Betroffene meldeten sich daraufhin bei der Telefonischen Anlaufstelle. Bis Juni 2012 gin­gen mehr als 900 Briefe und E-Mails ein. 229 Briefen und E-Mails von Menschen, die hierzu vorab ihre Einwilligung gegeben hatten, wurden in dem Forschungsvorhabens „Auswertungsprojekt Briefe“ ausge­wertet und bei der Fachtagung öffentlich vorgestellt.

Erschüttert von den Lebensgeschichten, beeindruckt von dem Mut und der Kraft

„Viele Menschen vertrauten sich zum ersten Mal an, was ihnen als Kind angetan wurde und welche Aus­wirkungen dies auf ihr Leben hatte“, sagte Christine Bergmann, die vor ihrer Tätigkeit als UBSKM unter anderem Bundesfamilienministerin war, bei der Fachtagung.

„Ich war erschüttert von den Lebensgeschichten, aber auch beeindruckt von dem Mut, und auch der Kraft, mit der viele Betroffene konkrete Anliegen vorbrachten, um mit ihrer Geschichte Politik und Ge­sellschaft zu bewegen, Kinder künftig besser zu schützen“, sagte sie.

„Die Briefe zeigen eine große Autonomie der Betroffenen und sie zeugen von einer großen Motivation zu sprechen, damit nicht noch mehr Kinder Vergleichbares erleben müssen“, sagte Sabine Andresen, Vorsitz­ende der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs.

Noch mehr müsse auch das Schweigen derjenigen in den Fokus rücken, die den Betroffenen nicht gehol­fen hätten, forderte die Professorin für Sozialpädagogik und Familienforschung an der Goethe-Universi­tät Frankfurt am Main. „Doch das kann nicht die Aufgabe der Betroffenen sein.“

Große Aktualität und weiterhin deutliche Mängel

„Aus den Erfahrungen, die die Betroffenen damals machten, lassen sich zeitunabhängige Faktoren he­rausarbeiten, die weiterhin von großer Aktualität sind und auf deutliche Mängel hinweisen“, sagte Jörg M. Fegert, damals wie heute Projektleiter und ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsy­chiatrie/Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm.

„Viele Betroffene hatten in die Kampagne „Sprechen hilft!“ Hoffnungen vor allem in Bezug auf schnelle Hilfe und rechtliche Veränderungen gesetzt, die so nicht zu erfüllen waren.“ Deshalb müsse der An­spruch der sehr erfolgreichen Kampagne mit Blick auf individuelle Erwartungen und Schicksale aus heutiger Sicht jetzt kritisch reflektiert werden, forderte der Arzt.

Zu wenig Therapieplätze, zu wenig Fachberatungsstellen

Damals wie heute suchen die Betroffenen von sexuellem Missbrauch in der Kindheit dringend Therapie­plätze. Das geht aus den Briefen hervor und das bestätigte auch Peter Lehndorfer, ehemaliger Vizepräsi­dent der Bundespsychotherapeutenkammer, bei der Fachtagung.

„Betroffene brauchen einen geschützten Raum, in dem sie auf die Schweigepflicht von Ärzten und Psy­cho­therapeuten vertrauen können.“ Die Wartezeiten auf einen Therapieplatz seien wie generell in der Psychotherapie lang. „Zudem brauchen Betroffene von sexueller Gewalt Therapeuten, die über trauma­spezifische Kenntnisse verfügen nach evidenzbasierten Methoden arbeiten“, sagte Lehndorfer. Dies schränke die Möglichkeiten auf einen Therapieplatz weiter ein.

Über den Ausbau spezieller Behandlungsangebote hinaus, sieht der Ex-BPtK-Vizepräsident Bedarf für niedrigschwellige Beratung von Betroffenen sexueller Gewalt. Hier müssten vor allem in ländlichen Gebieten mehr Angebote geschaffen werden, forderte Lehndorfer.

„In den letzten zehn Jahren ist es nicht zu einem wirklichen flächendeckenden Ausbau von Fachbera­tungs­­stellen gekommen“, ergänzte Katrin Schwedes, Bundeskoordinierung Spezialisierter Fachberatung gegen sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend. „Und das obwohl gerade die niedrig­schwellige Be­ratung für Betroffenen so wichtig ist.“

Die zentralen Ergebnisse des Briefe-Projekts, wie sie bei der Fachtagung vorgestellt wurden: Christine Bergmann wurde von den Betroffenen als wichtige Ansprechperson gesehen und in fast allen Briefen persönlich adressiert.

Zudem erhofften sie sich von ihr Ratschläge – als engagierte und vertrauens­würdige Person und auch in ihrer politischen Rolle. Die Rückmeldungen zur Kampagne „Sprechen hilft!“ waren überwiegend positiv. Es wurde Erleichterung darüber zum Ausdruck gebracht, dass „endlich“ eine entsprechende Stelle ein­gerichtet wurde, an die sich Betroffene wenden konnten.

Die Betroffenen von sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend drückten aber auch Skepsis und Misstrauen darüber aus, ob Veränderungen nach jahrelangen Erfahrungen von Missachtung und Nichtbeachtung tatsächlich erwartbar seien.

Eine Gruppe der Betroffenen versteht ihre Briefe zudem als Beitrag zu einer breiten Aufarbeitung sexu­ellen Missbrauchs über den eigenen Fall hinaus und einer öffentlichen Sensibilisierung und Sichtbar­machung dieser Thematik. Die betroffenen Schreibenden reflektierten zum Teil den Schreibprozess als einerseits herausfordernde Aufgabe und andererseits als hilfreiches Element zur Bewältigung des Geschehenen.

Etwa zwei Drittel der Briefe-Schreibenden sind weiblich. Die berichtete sexualisierte Gewalt fand fast ausschließlich in der Vergangenheit (98 Prozent) statt und dauerte meist bis zu zehn Jahre (88 Prozent) oder länger an. Die Hälfte der beschriebenen Missbrauchsfälle fand im familiären Kontext statt, etwa ein Drittel im institutionellen Kontext wie beispielsweise in Heimen oder Internaten. © PB/aerzteblatt.de

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