Medizin
Frankreich: Kryptorchismus hat in Regionen der (ehemaligen) Schwerindustrie deutlich zugenommen
Donnerstag, 6. Mai 2021
Paris – In Frankreich ist die Zahl der Jungen, bei denen in den ersten Lebensjahren ein Kryptorchismus chirurgisch korrigiert wurde, innerhalb von nur 13 Jahren um 1/3 gestiegen. Die meisten Erkrankungen traten laut einer Studie in Human Reproduction (2021; DOI: 10.1093/humrep/deaa378) in stark industrialisierten Regionen auf, die allerdings in den letzten Jahren von einem wirtschaftlichen Niedergang betroffen waren.
Bei etwa 3 % bis 6 % der neugeborenen Jungen ist der physiologische Hodenabstieg bei der Geburt noch nicht abgeschlossen. Bei den meisten Kindern wird er im 1. Lebensjahr nachgeholt. Bleibt es jedoch beim Maldescensus testis oder Kryptorchismus, ist eine operative Korrektur notwendig, um die spätere Zeugungsfähigkeit zu erhalten. Die Operationen werden heute in den Krankenhausstatistiken erfasst, so dass es Joëlle Le Moal von der zentralen Gesundheitsbehörde Santé Publique France und Mitarbeitern relativ leicht möglich war, zeitliche Trends zu erkennen und Regionen aufzuspüren, in denen die Operationen überdurchschnittlich häufig durchgeführt wurden.
Die zeitliche Analyse ergab, dass es in ganz Frankreich im Zeitraum von 2002 bis 2014 zu einem Anstieg der Operationen um 36,4 % gekommen ist (95-%-Konfidenzintervall 30,8 % bis 42,1 %). Bei den Operationen vor dem 2. Lebensjahr betrug der Anstieg sogar 55,8 % (48,8 % bis 63,1 %).
Ein möglicher Grund könnte natürlich sein, dass einige Operationen früher und insgesamt häufiger durchgeführt wurden, bevor der physiologische Deszensus abgeschlossen ist. Der französische Urologenverband hatte sich 2011 für eine Operation in den ersten beiden Lebensjahren ausgesprochen.
Vor dem Hintergrund anderer Studien ist jedoch ein Umwelteinfluss möglich. Diese Studien hatten einen Rückgang der Spermienmenge im Ejakulat, einen Anstieg von Hodentumoren oder eine Verkürzung der anogenitalen Distanz mit Chemikalien in Verbindung gebracht, die die vorgeburtliche Entwicklung der Genitalien stören und deshalb als endokrine Disruptoren bezeichnet werden.
Diese Hypothese wird durch den zweiten Teil der Studie gestützt. Le Moal zeigt hier, dass die Zahl der Kryptorchismusoperationen nicht gleich über das Land verteilt war. Es gibt 24 Cluster, in denen 10 % aller Fälle auftraten. Diese Cluster befinden sich vor allem im Norden und im Osten des Landes und dort in den Industrieregionen.
Der größte Cluster befindet sich in der Umgebung von Lens im Département Pas-de-Calais. Die Gegend war früher ein Zentrum des Steinkohlebergbaus. Es gab dort einen Schmelzofen und ein Hüttenwerk, die die Umwelt mit Metallen, vor allem Blei und Kadmium, belastet haben.
Nach dem Ende des Bergbaus um 1990 schlossen auch die meisten schwerindustriellen Betriebe, was eine schwere Rezession ausgelöst hat, die bis in die jüngste Vergangenheit anhielt. Neben der Exposition mit Schadstoffen käme auch die soziale Deprivation, die in der Regel mit einem ungesünderen Lebensstil verbunden ist, als Erklärung für den Cluster infrage.
Auch die anderen 23 Cluster, die Le Moal gefunden hat, befinden sich an Orten der vormaligen Bergbau- und Schwerindustrie, und auch dort hat sich die wirtschaftliche Situation der Bevölkerung während der Strukturkrise deutlich verschlechtert. Da die Schadstoffe nach der Schließung der Fabriken in der Regel nicht beseitigt wurden, könnten sie für den Anstieg mit verantwortlich sein.
Eine Schädigung wäre plausibel, da die meisten Metalle über die Plazenta den Embryo oder Fetus erreichen. Die industrielle Tätigkeit ist zudem mit einer vermehrten Belastung mit Dioxinen und polychlorierten Biphenylen verbunden, die als endokrine Disruptoren eingestuft werden.
Beweisen kann die Studie den Zusammenhang jedoch nicht. Le Moal betont, dass ihre Ergebnisse eher hypothesenbildend seien. Weitere gezielte Forschung sei erforderlich. Zu den interessanten Fragen gehört, ob es in anderen Ländern zu ähnlichen Entwicklungen gekommen ist. Dann wäre zu klären, ob Metalle als Auslöser infrage kämen, was in tierexperimentellen Studien untersucht werden könnte. © rme/aerzteblatt.de
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