Medizin
Studie: Psychische und neurologische Störungen nach überstandener COVID-19 häufig
Mittwoch, 7. April 2021
Oxford – 1/3 aller US-Amerikaner, die im letzten Jahr an COVID-19 erkrankt waren, wurden in den ersten 6 Monaten nach der Infektion wegen neurologischer oder psychiatrischer Erkrankungen behandelt.
Am häufigsten waren Angststörungen und Depressionen, aber auch Schlaganfälle und Demenzen traten laut der Auswertung von fast einer Viertelmillion Krankenakten in Lancet Psychiatry (2012; DOI: 10.1016/S2215-0366(21)00084-5) bei COVID-19-Patienten häufiger auf als nach einer Grippe oder anderen Atemwegserkrankungen.
Das Gehirn gehört zu den Organen, die bei einer schweren COVID-19 in Mitleidenschaft gezogen werden können. Schlaganfälle und Hirnblutungen, aber auch eine Enzephalopathie (Delir) gehören zu den neurologischen Manifestationen der akuten Erkrankung. Es bestand anfangs die Hoffnung, dass sich die Patienten nach überstandener Erkrankung wieder erholen. Die jetzt von Maxime Taquet und Mitarbeitern der Universität Oxford vorgestellten Daten lassen jedoch befürchten, dass die Morbidität auch nach der Genesung erhöht bleibt.
Die Forscher haben die Daten des TriNetX-Netzwerks ausgewertet, das Zugriff auf die elektronischen Krankenakten von etwa 81 Millionen Patienten in den USA hat. Darunter waren 236.379 Erwachsene, bei denen die Ärzte im letzten Jahr eine COVID-19 diagnostiziert hatten. Von diesen mussten 46.302 wegen eines schweren Verlaufs hospitalisiert werden, bei 8.945 war eine Intensivbehandlung notwendig, bei 6.229 wurde eine Enzephalopathie diagnostiziert.
Die Analyse ist auf Patienten beschränkt, die die Erkrankung überlebt haben. Taquet hat jetzt untersucht, wie häufig die Rekonvaleszenten in den ersten 6 Monaten nach COVID-19 wegen neurologischer oder psychiatrischer Erkrankungen behandelt wurden. Dies war bei 33,6 % der Patienten der Fall.
Am häufigsten waren psychiatrische Störungen: 17,4 % wurden wegen Angststörungen, 13,7 % wegen affektiver Störungen wie Depressionen, 7,1 % wegen eines Substanzmissbrauchs und 5,4 % wegen Schlafstörungen behandelt. Die Inzidenz neurologischer Ereignisse war geringer: 0,6 % erlitten Hirnblutungen, 2,1 % einen ischämischen Schlaganfall und bei 0,7 % wurde eine Demenz diagnostiziert.
Diese Erkrankungen wären bei einem Teil der Patienten auch ohne COVID-19 aufgetreten. Taquet vergleicht die COVID-19-Fälle deshalb zum einen mit Patienten, die eine Grippe überstanden hatten, und zum anderen mit allen Patienten nach Atemwegserkrankungen einschließlich einer Grippe.
Im Vergleich zur Grippe kam es nach COVID-19 zu 44 % häufiger zu einer psychiatrischen oder neurologischen Erkrankung (Hazard Ratio 1,4; 95-%-Konfidenzintervall 1,40 bis 1,47). Im Vergleich zu allen Atemwegsinfektionen war das Risiko um 16 % erhöht (Hazard Ratio 1,16; 1,14 bis 1,17). Dies deutet darauf hin, dass COVID-19 tatsächlich für einige Störungen verantwortlich ist (wobei sich dies in einer retrospektiven Analyse niemals sicher beweisen lässt).
Ein weiterer Hinweis auf eine Kausalität ergibt sich aus dem Vergleich von Patienten, die nur leicht an COVID-19 erkrankt waren (ohne Krankenhausbehandlung), mit jenen, die auf Intensivstation behandelt wurden oder bei denen eine Enzephalopathie diagnostiziert wurde. Hier war ein Gradient erkennbar. Im Vergleich zu der Gesamtinzidenz von 33,6 % traten die neurologischen oder psychiatrischen Störungen bei 38,7 % der hospitalisierten Patienten auf. Bei den Intensivpatienten betrug der Anteil 46,4 % und bei den Patienten mit einer Enzephalopathie sogar 62,3 %
Der Gradient des Risikos war auch bei den einzelnen Störungen nachweisbar. So kam es in den 6 Monaten nach COVID-19 bei 2,7 % der Intensivpatienten und 3,6 % der Patienten mit Enzephalopathie zu einer Hirnblutung. Von den leicht erkrankten Patienten erlitten nur 0,3 % eine Hirnblutung. Einen ischämischen Schlaganfall erlitten 6,9 % der Intensiv- und 9,4 % der Enzephalopathiepatienten gegenüber 1,3 % der nur leicht an COVID-19 erkrankten Patienten.
Eine Demenz entwickelten 1,7 % und 4,7 % gegenüber 0,4 % der leicht erkrankten Patienten. Psychotische Störungen wurden bei 2,8 % und 7 % gegenüber 0,9 % der leichten COVID-19-Fälle diagnostiziert.
Für das Guillain-Barré-Syndrom wurde keine eindeutige Assoziation gefunden. Die zu Beginn der Pandemie geäußerten Befürchtungen scheinen sich hier nicht zu bestätigen. Auch eine Häufung von Parkinsonerkrankungen wurde bisher nicht gesehen.
Damit gibt es vorerst keine Hinweise auf eine Encephalitis lethargica. Das parkinsonähnliche Krankheitsbild war nach der Spanischen Grippe in den Jahren 1915 bis 1927 gehäuft aufgetreten. Die Nachbeobachtungszeit von 6 Monaten reicht jedoch nicht aus, um diese mutmaßliche Folge von schweren Atemwegserkrankungen auszuschließen. © rme/aerzteblatt.de

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