Medizin
Wie ein Medikament Hungergefühle im Gehirn abschwächt
Mittwoch, 16. Juni 2021
Rehovot/Israel –Der Melanocortin-4-Rezeptor ist der zentrale Schalter für Hunger- und Sättigungsgefühle im Gehirn. Eine Studie in Science (2021; DOI: 10.1126/science.abf7958) zeigt, wie ein in den USA bereits zugelassenes Medikament Patienten mit genetisch bedingter Adipositas helfen kann, ihr Körpergewicht zu senken.
Die Hunger- und Sättigungsgefühle entstehen (nicht im Magen, wo sie als Leere wahrgenommen werden, sondern) im Hypothalamus. Hier befindet sich eine Gruppe von Neuronen, die den Energiezustand des Körpers bewerten. Die POMC-Neuronen (für Proopiomelanocortin) empfangen Sättigungssignale, die die Hormone Leptin und Insulin übermitteln.
Die POMC-Neuronen produzieren dann das alpha-Melanozyten-stimulierende Hormon, das den Melanocortin-4-Rezeptor (MC4R) stimuliert (Agonismus): MC4R schaltet auf „satt“, die Nahrungsaufnahme wird eingestellt. Wenn die Sättigungssignale von Leptin und Insulin ausbleiben und das Hormon Ghrelin einen Energiemangel signalisiert, wird MC4R durch das Hormon „Agouti-related Peptid“ (AgRP) gehemmt (Antagonismus). Es kommt zum Hungergefühl. Der Drang zur Nahrungsaufnahme setzt ein.
Mutationen im MC4R-Rezeptor können schwere Auswirkungen auf die Energiebilanz haben. Bei „Loss of function“-Mutationen bleibt die Sättigung aus. Der Hunger wird zum Dauerzustand. Der Body-Mass-Index steigt an. „Loss of function“-Mutationen werden für 6 bis 8 % aller Adipositas-Erkrankungen verantwortlich gemacht. Die Betroffenen entwickeln häufig eine extreme Adipositas. Der BMI kann 70 ansteigen, mehr als das 3-fache des Normalbereichs.
Es gibt auch seltene „Gain of function“-Mutationen im MC4R-Gen. Sie sind relativ selten. In der UK-Biobank-Studie wurden sie bei 0,1 % der Menschen gefunden. Die Betroffenen haben meist einen niedrigen BMI und mit Untergewicht zu kämpfen.
Seit dem November letzten Jahres ist in den USA mit dem Wirkstoff Setmelanotid ein MC4R-Agonist zugelassen, der Sättigungssignale verstärkt. Die Indikation ist derzeit auf 3 seltene genetische Störungen beschränkt, die durch Mutationen in den Genen für POMC, PCSK1 (Proprotein-Subtilisin/Kexin Typ 1) und LEPR (Leptinrezeptor) ausgelöst werden.
In 2 Phase-3-Studien zum POMC-Mangel und zum LEPR-Mangel, deren Ergebnisse im Dezember in Lancet Diabetes & Endocrinology (2020; DOI: 10.1016/S2213-8587(20)30364-8) veröffentlicht wurden, hat sich Setmelanotid als effektiv erwiesen.
In der 1. Studie verloren 8 von 10 Patienten mit POMC-Mangel in 1 Jahr mehr als 10 % des Körpergewichts. In der 2. Studie erreichten 5 von 11 Patienten mit LEPR-Mangel dieses Therapieziel. In beiden Gruppen kam es zu einer Linderung der für die Patienten quälenden Hungergefühle. In Europa ist Setmelanotid noch nicht zugelassen. In den USA ist die Anwendung auf Personen mit Mutationen in den 3 Genen beschränkt. Laut FDA gibt es weltweit nur etwa 150 Patienten.
Einem Team um Moran Shalev-Benami vom Weizmann Institute of Science in Rehovot bei Tel Aviv ist es jetzt gelungen, die Bindung von Setmelanotid am Melanocortin-4-Rezeptor mit der Kryoelektronenmikroskopie zu analysieren.
Die Studie (Cell, 2019; DOI: 10.1016/j.cell.2019.03.044) zeigt, wo die Bindung am Rezeptor erfolgt und wie dadurch der molekulare Schalter betätigt wird, der das Sättigungsgefühl vermittelt. Setmelanotid erzielte dabei sogar eine stärkere Wirkung als der natürliche Ligand Melanocortin-4-Rezeptor. Dabei scheinen Kalziumionen eine unterstützende Wirkung zu haben.
Die Forscher hoffen, dass ihre Erkenntnisse die Entwicklung neuer Medikamente gegen die Adipositas anregen werden, die dann nicht nur bei seltenen Gendefekten zum Einsatz kommen könnten. Die klinischen Studien haben gezeigt, dass ein MC4R-Agonist eine sättigende Wirkung haben kann. Der klinische Erfolg von Medikamenten hängt allerdings auch von der Verträglichkeit ab.
Setmelanotid hat sich in den klinischen Studien als sicher erwiesen. Es ist allerdings nicht frei von Nebenwirkungen. Dazu gehören Hyperpigmentierungen der Haut (da MC4R auch in den Melanomen der Haut gebildet wird), Kopfschmerzen und gastrointestinale Nebenwirkungen wie Übelkeit, Durchfall und Bauchschmerzen. Bei Männern kam es zu spontanen Erektionen, bei Frauen zu unerwünschten sexuellen Reaktionen. Depressionen und Selbstmordgedanken wurden laut der US-Zulassungsbehörde FDA ebenfalls registriert. © rme/aerzteblatt.de
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