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Ärzteschaft

Ärztetag streicht berufsrechtliches Verbot der ärztlichen Suizidbeihilfe

Mittwoch, 5. Mai 2021

/pololia, stock.adobe.com

Berlin – Ärzte können künftig frei und allein auf Basis ihres Gewissens entscheiden, ob sie Suizidwillige beim Sterben unterstützen. Der 124. Deutsche Ärztetag beschloss heute, die Regelung zur Hilfe zur Selbsttötung in Paragraf 16 der (Muster-)Berufsordnung (MBO-Ä) zu streichen (Satz 3).

Mit der Streichung des Satzes „Der Arzt darf keine Hilfe zur Selbsttötung leisten“ entsprachen die Dele­gier­ten dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), das im vergangenen Jahr den Paragraf 217 Straf­ge­setzbuch (StGB), der die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung unter Strafe stellte, für nich­tig er­klärte und gleichzeitig kritisierte, dass die MBO-Ä und die Berufsordnungen der meisten Landesärzte­kam­mern ärztliche Suizidhilfe untersagen.

Der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Klaus Reinhardt, stellte jedoch gleichzeitig klar, dass die Ärzteschaft nicht bereit sei, Suizidbeihilfe zu einer normalen ärztlichen Dienstleistung zu machen. Es gebe nur wenige Fälle, in denen sterbenskranken Menschen nicht durch palliativmedizinische Maßnahmen ge­holfen werden könne, betonte er.

Bei der Abstimmung des entsprechenden Antrags des BÄK-Vorstands und auch bereits bei der vorangehen­den Debatte sprachen sich die Delegierten mit überwältigender Mehrheit für die Streichung des berufs­recht­lichen Verbots aus. Der Paragraf 16 der MBO-Ä könne in seiner bisherigen Fassung allein aus verfas­sungsrechtlichen Gründen nicht aufrechterhalten werden, meinten sie.

Man müsse das Bundesverfassungsgerichturteil beachten und umsetzen – „Winkelzüge“ solle es nicht ge­ben, sagte Ingolf Hosbach (Westfalen-Lippe). Der Vorstandsantrag zur Streichung sei „alternativlos“. Dem widersprach Rudolf Henke und verwies darauf, dass eine rechtskonforme Anwendung der Berufsordnung bis zu einer neuen gesetzlichen Lösung auch möglich sei, ohne den Satz zu streichen.

Pedram Emami, Präsident der Ärztekammer Hamburg, hielt es jedoch für günstiger, bereits jetzt eine Ent­scheidung zu treffen. Die Ärzteschaft sei „gut beraten“ die MBO-Ä dem Urteil des Bundesverfassungsge­richts näher zu bringen.

„Juristische Taschenspielertricks“ sollten unterbleiben, betonte er. Dabei verwies er auf die öffentliche Auf­merksamkeit: Im Rahmen weitergehender Regelungen müsse man dann auch die sich aus dem ärztlichen Selbstverständnis ergebenden Grenzen der Suizidbeihilfe definieren.

Die Streichung des Verbots der ärztlichen Suizidbeihilfe ändere nichts daran, dass ärztliches Handeln von einer lebens- und gesundheitsorientierten Zielrichtung geprägt bleiben müsse, betonte auch Josef Mischo, Vorsitzender der Berufsordnungsgremien der BÄK.

„Mit der Änderung der Musterberufsordnung schaffen wir Rechtssicherheit und eine konsistente Ausgestal­tung des ärztlichen Berufsrechts“, erklärte er. Der Antrag betone zugleich, dass niemand verpflichtet wer­den könne, Suizidhilfe zu leisten. „Es leitet sich aus dem Recht des Einzelnen also kein Anspruch darauf ab, bei einem Selbsttötungsvorhaben ärztlich unterstützt zu werden", heißt es darin.

Die Lebensorientierung des ärztlichen Berufes stellten aber auch andere Vorschriften der MBO-Ä klar, er­klärte Mischo. Bereits Paragraf 1 der MBO-Ä betone, dass es die Aufgabe der Ärztinnen und Ärzte sei, das Leben zu erhalten, die Gesundheit zu schützen und wiederherzustellen, Leiden zu lindern, Sterbenden Bei­stand zu leisten und an der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Gesundheit der Menschen mitzuwirken. Daraus folge, dass es nicht zum Aufgabenspektrum der Ärzteschaft zähle, Hilfe zur Selbsttötung zu leisten.

Suizidassistenz dürfe nicht zur Normalität werden, mahnte auch Andreas Botzlar, Vizepräsident der Bayeri­schen Landesärztekammer. Die aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts resultierende Situation sei gesellschaftlich „delikat“. Es müsse unbedingt vermieden werden, dass Menschen sich rechtfertigen müss­ten, wenn sie eine Entscheidung gegen einen assistierten Suizid treffen.

Auch Johannes Grundmann, Vizepräsident der Ärztekammer Bremen, betonte, dass man eine Kommerziali­sie­rung und die Entwicklung der Suizidhilfe hin zu einer „normalen Dienstleistung“ verhindern müsse. Sei­ner Einschätzung nach bleibe die Situation unabhängig von möglichen kommenden Neuregelungen für die Ärzte schwierig. Für alle diesbezüglichen Entscheidungen bleibe immer das individuelle Arzt-Patienten-Ver­hältnis entscheidend.

Dass es tatsächlich die Aufgabe von Ärzten ist, Patienten mit Suizidgedanken oder Todes­wün­schen mit Gesprächsbereitschaft zu begegnen, betonte Susanne Johna vom BÄK-Vorstand. „Das ver­trauensvolle Ge­spräch über den Wunsch des Patienten, zu sterben oder das eigene Leben zu beenden, ge­hört zum Kern der ärztlichen Tätigkeit“, heißt es in einem von ihr vertretenen Antrag. Hingegen sei die Mitwirkung von Ärzten bei der Selbsttötung keine ärztliche Aufgabe, erklärte sie.

In Arzt-Patienten-Verhältnis müsse aber „bis zuletzt“ eine Beratung der Patienten möglich sein, und zwar egal aus welchem Grund, betonte Ellen Lundershausen, Vizepräsidentin der BÄK. Darüber sei man sich bei langen Diskussionen im Präsidium des Bundesärztekammer – auch unter Beteiligung der verstorbenen Kollegin Heidrun Gitter – stets einig gewesen. Die dafür notwendige Zeit müsse im Rahmen des Arztge­spräches immer vorhanden sein.

Der 124. Deutsche Ärztetag forderte mit einem weiteren Antrag die Politik auf, die Suizidprävention in Deutschland stärker auszubauen und zu verstetigen. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts richte sich die gesellschaftliche und politische Diskussion vor allem auf eine mögliche Regelung der Suizidassis­tenz, kritisierten die Delegierten.

Es sei zu befürchten, dass Menschen vermehrt bei interpersonellen Konflikten, Erfahrungen der Verlassen­heit und psychosozialen Folgen von Multimorbidität und Immobilität das Recht auf Suizidbeihilfe in An­spruch nehmen würden, mahnten sie. Für diese Menschen sei Suizidprävention notwendig, nicht Suizid­assistenz.

Von den jährlich etwa 10.000 Menschen, die durch Suizid versterben, befänden sich die meisten in einer psychosozialen Krise, die zu einer kognitiven, emotionalen und sozialen Einengung führe, berichteten in der Debatte einige Ärztinnen und Ärzte aus ihren Erfahrungen.

Für Svante Gehring (Ärztekammer Schleswig-Holstein) ist die Zahl der Suizide aber auch ein „Gradmesser“ für das gesamtgesellschaftliche Eingehen auf die vielfältigen Ursachen für Suizidwünsche. Da die Ärzte­schaft einer der Hauptansprechpartner sein werde, müsse man sich darauf vorbereiten, sich in die politi­schen Prozesse einzubringen.

Aber auch für Suizidwillige müssten Ärzte als Ansprechpartner fungieren, meinte Erik Bodendieck, Präsi­dent der Sächsischen Landesärztekammer. Ärzte sei dafür besser geeignet als staatliche Stellen. Es sei „gut und richtig“ sich immer wieder mit den Inhalten des ärztlichen Berufsbildes auseinanderzusetzen.

Von einer umfassenden Beratung dürfe man sich als Ansprechpartner auch beim Thema Tod nicht zurück­ziehen – auch wenn das Thema in der Gesellschaft tabuisiert sei. Als Angehöriger eines Freien Berufes müsse jeder Arzt auf Basis des eigenen Gewissens denjenigen helfen können dürfen, welche für sich selbst eine Entscheidung getroffen haben, betonte der Hausarzt und Palliativmediziner.

Der 124. Deutsche Ärztetag forderte den Deutschen Bundestag heute auch auf, als erste Konsequenz aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts kurzfristig eine umfassende Bestandsaufnahme der bestehen­den Programme und Initiativen zur Suizidprävention in Deutschland in Auftrag zu geben.

Zudem müsse das psychosoziale Hilfesystem und das Gesundheitswesen personell und finanziell besser ausgestattet werden, damit allen Betroffenen ein niederschwelliges, zielgruppengerechtes, menschlich und fachlich kompetentes Hilfsangebot gemacht werden könne.

„Gespräche und Beratung zum Thema Tod sind Teil der ärztlichen Aufgaben – die Mitwirkung beim Suizid aber nicht“, erklärte Martina Wenker, Präsidentin der Ärztekammer Niedersachsen. Über die genaue ärztli­che Rolle bei der Suizidbeihilfe könne und müsse auch nach Streichung des Verbots der ärztlichen Suizid­beihilfe in der Berufsordnung noch auf weiteren Ärztetagen diskutiert werden. © ER/aha/aerzteblatt.de

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