Medizin
Bipolare Störungen: 64 Risikoregionen im menschlichen Erbgut
Mittwoch, 19. Mai 2021
Bonn – Eine neue Genom-weite Assoziationsstudie bestätigt, dass bipolare Störungen zu einem großen Teil genetische Ursachen haben. Nach den in Nature Genetics (2021; DOI: 10.1038/s41588-021-00857-4) publizierten Ergebnissen könnte der Typ I gemeinsame genetische Wurzeln mit der Schizophrenie haben, während der Typ II eher mit Depressionen verwandt ist. Einige Risikogene weisen auf eine mögliche Wirkung von Blutdrucksenkern hin.
Bipolare Störungen treten häufig familiär gehäuft auf. Zwillings- und Familienstudien haben eine Heritabilität von 60 bis 85 % gefunden. Es hat deshalb nicht an Versuchen gefehlt, die verantwortlichen Gene zu finden. Ein beliebtes Instrument sind heute Genom-weite Assoziationsstudien (GWAS), die das Erbgut von möglichst vielen Patienten mit gesunden Menschen vergleichen. Dabei wird nach Genvarianten, sogenannten Einzelnukleotidpolymorphismen (SNP) gesucht, die bei den Patienten gehäuft auftreten.
Die vom „Psychiatric Genomics Consortium“ vorgestellte Analyse ist bereits die 3. GWAS zu bipolaren Störungen. Ein Team von 320 Forschern hat die Gene von 41.917 Patienten aus Europa, Nordamerika und Australien an 7,5 Millionen Stellen analysiert. Dabei wurden zahlreiche neue Assoziationen gefunden, sodass sich die Zahl der bekannten Genorte, an denen sich Patienten mit bipolaren Störungen von anderen Menschen unterscheiden, von 33 auf 65 erhöht.
Die Genorte sind breit über das Genom verstreut und bestätigen die Vermutung, dass die Erkrankung vielfältige Ursachen hat. Teilweise ist die Funktion der Gene bekannt, auf denen sich die SNP befinden. Dies reizt natürlich zu Spekulationen, vor allem wenn die Gene im Gehirn aktiv sind.
Einige Gene enthalten Bauanleitungen für Ionenkanäle, die sich auf der Membran der Nervenzellen befinden, wo die Signalweiterleitung im Gehirn in Form von sogenannten Aktionspotentialen erfolgt. Bemerkenswert sind für Prof. Andreas Forstner vom Institut für Humangenetik am Universitätsklinikum Bonn, der neben Forschern der Icahn School of Medicine in New York und der Universität Oslo federführend bei der Auswertung der Ergebnisse war, insbesondere Kalziumkanäle.
Kalziumkanäle, die es auch in anderen Organen gibt, sind seit langem ein Ansatzpunkt für Medikamente. Kalziumkanalblocker werden beispielsweise in der Kardiologie zur Behandlung von Hochdruckerkrankungen, aber auch von Herzrhythmusstörungen eingesetzt. Nach den neuen Erkenntnissen könnten sie auch bei bipolaren Störungen wirksam sein.
Ob dies der Fall ist, lässt sich allerdings aus den Ergebnissen einer GWAS nicht ableiten. Die Idee, Kalziumkanalblocker bei Patienten mit bipolaren Störungen einzusetzen, ist außerdem nicht neu. Bislang konnte jedoch eine Wirksamkeit nicht nachgewiesen werden. Die neuen Ergebnisse könnten zu weiteren klinischen Studien motivieren.
Eine weitere Erkenntnis aus der GWAS betrifft die Einteilung der bipolaren Störungen in 2 Hauptformen. Psychiater unterscheiden seit längerem einen Typ I, bei dem sich Phasen einer Hochstimmung mit anschließenden tiefen Depressionen abwechseln. Dieser Typ I wird in der Umgangssprache auch als „manische Depression“ bezeichnet. An ihr erkranken etwa 1 % der Bevölkerung. Es ist die für die Patienten gefährlichere Form der Erkrankung, da das Suizidrisiko in den manischen Phasen deutlich erhöht ist.
Die neue GWAS lässt vermuten, dass der Typ I mit einer Schizophrenie verwandt ist. Insgesamt 17 der Genorte der bipolaren Störungen waren in früheren GWAS auch mit der Schizophrenie in Verbindung gebracht worden.
Der Typ II der bipolaren Störungen, an dem etwa 4 % der Bevölkerung leiden, kennt dagegen keine euphorischen Phasen. Der Verlauf ist milder und das Suizidrisiko geringer. Insgesamt 7 Genorte, die in der aktuellen GWAS gefunden wurden, stehen auch mit Depressionen in Verbindung.
Das Forscherteam fand auch genetische Überschneidungen zwischen bipolaren Störungen und Schlafgewohnheiten, sowie mit einem Alkohol- und Substanzkonsum und Tabakrauchen. Rauchen könnte das Risiko für eine bipolare Störung signifikant erhöhen. Beim problematischen Alkoholkonsum legen die Analysen dagegen einen bidirektionalen Zusammenhang nahe: Menschen mit einer Veranlagung für eine bipolare Störung trinken öfter; umgekehrt scheint dieses Verhalten auch ihre Erkrankungswahrscheinlichkeit zu erhöhen.
Forstner rät bei der Interpretation der Befunde zur Zurückhaltung. Die nachgewiesenen Zusammenhänge zwischen bestimmten Verhaltensweisen und der bipolaren Störung müssten zunächst noch in weiteren großen Studien untersucht werden. © rme/aerzteblatt.de
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