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Medizin

Morbus Alzheimer: FDA lässt Antikörper Aducanumab entgegen negativem Expertenvotum zu

Dienstag, 8. Juni 2021

/SciePro, stock.adobe.com

Silver Spring/Maryland – Die US-Arzneimittelbehörde (FDA) hat mit dem Antikörper Aducanumab erstmals ein Medikament zugelassen, das in klinischen Studien die Beta-Amyloid-Ablagerungen deutlich reduziert hat, die für die Zerstörung der Hirnzellen verantwortlich sein sollen. Ob sich daraus für den Patienten ein klinischer Nutzen ergibt, ist nach Einschätzung der FDA nicht klar.

Die Behörde entschied sich für den Weg einer beschleunigten Zulassung, was eine spätere Rücknahme ermöglichen könnte, sollten sich die bisherigen Erfahrungen in einer Phase-4-Studie nicht erfüllen, deren Durchführung an die Zulassung geknüpft ist.

Beim Morbus Alzheimer kommt es zur Akkumulation von Beta-Amyloiden und Tau-Fibrillen im Gehirn. Die Erkrankung beginnt vermutlich Jahrzehnte vor den ersten Symptomen. Ob eine Behandlung den Krankheitsprozess dann noch aufhalten kann, ist umstritten. Tierexperimentelle Studien haben wieder­holt gezeigt, dass eine Behandlung mit monoklonalen Antikörpern, Beta-Amyloid binden und aus dem Gehirn entfernen kann.

Alle Versuche, eine günstige Wirkung auch bei Patienten mit Morbus Alzheimer nachzuweisen, waren bisher gescheitert. Wirkstoffe der Firmen Eli Lilly, Pfizer, Roche und MSD haben sich in den letzten Jahrzehnten als unwirksam erwiesen.

Auch die klinischen Studien, die das Biotech-Unternehmen Biogen zu Aducanumab durchführte, waren zunächst erfolglos. Mitte 2016 hatte der Hersteller die beiden Phase-3-Studien EMERGE (Studie 1: NCT02484547 , Studie 2: NCT02477800) mit 1.638 Patienten und ENGAGE mit 1.647 Patienten begonnen. Sie wurden 2019 gestoppt, nachdem eine sogenannte Futility-Analyse zu dem Ergebnis kam, dass kein Nutzen erkennbar ist und dieser bei Fortsetzung der Studie auch nicht mehr zu erwarten sei.

Vor 2 Jahren kam dann die Kehrtwende. Der Hersteller hatte nach dem Abbruch der beiden Studien den Teilnehmern ermöglicht, die Behandlung fortzusetzen. Insgesamt 2.066 Patienten nutzten diese Möglichkeit. Bei der späteren Analyse der Daten fanden sich dann Hinweise auf einen klinischen Nutzen. Inzwischen hatte auch eine 3. Studie (PRIME) gezeigt, dass Aducanumab die Beta-Amyloide aus dem Gehirn entfernen kann.

Im Oktober 2019 verkündete der Hersteller dann auf einer Investoren­konferenz, dass sich das Blatt in einer der beiden Studien gewendet habe. In der EMERGE-Studie sei es zu einer im Vergleich zu Placebo signifikant abgeschwächten Progression der Demenz gekommen.

Der Hersteller betrieb daraufhin die Zulassung. Die FDA organisierte eine externe Gutachtertagung, in der im November 2020 alle Daten vorgestellt wurden. Am Ende der Tagung wurden die Gutachter nach ihrer Meinung befragt.

Das Votum der Experten fiel negativ aus: 10 der 11 Gutachter meinten am Ende, die vorgelegten Forschungsergebnisse würden keinen „primären Beweis für die Wirksamkeit“ von Aducanumab bei der Behandlung der Alzheimerkrankheit liefern. Selbst auf die Frage, ob die Ergebnisse der EMERGE-Studie unabhängig und ohne Rücksicht auf die ENGAGE-Studie, starke Belege für die Wirksamkeit liefert, antwortete nur 1 Experte mit Ja.

Die FDA ist zwar nicht an das Votum gebunden, richtet sich jedoch in aller Regel danach. In diesem Fall hat die US-Behörde sich jedoch anders entschieden. Der Antikörper Aducanumab wurde in einem sogenannten „Accelerated Approval Program“ zugelassen und zwar nicht nur für Patienten im Frühstadium der Erkrankung, sondern ganz allgemein zur Behandlung des Morbus Alzheimer.

Das „Accelerated Approval Program“ ermöglicht in Indikationen, für die es derzeit keine wirksame Behandlung gibt, ein Medikament auf der Basis von Surrogat-Endpunkten zuzulassen. Dies kann ein Laborergebnis, ein Röntgenbild, ein körperlicher Befund oder ein anderer Parameter sein, der auf einen klinischen Nutzen hinweist. Bei Aducanumab war dies der deutliche Rückgang der Beta-Amyloid-Last, der in allen 3 Studien nachgewiesen wurde.

Die FDA knüpft die Zulassung an die Durchführung einer Phase-4-Studie. Sie muss in den nächsten Jahren den Beweis erbringen, dass das Mittel auch den klinischen Zustand der Patienten verbessert. Beim Morbus Alzheimer ist dies die Vermeidung weiterer kognitiver Störungen oder eine verlangsamte Progression der Demenz. Eine solche Studie ist jetzt auch für Aducanumab geplant, wobei Einzelheiten noch nicht genannt wurden.

Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Studie mehrere Jahre, wenn nicht ein Jahrzehnt dauern wird. In dieser Zeit würden möglicherweise viele Patienten vergeblich behandelt und gleichzeitig den Risiken der Behandlung ausgesetzt, die zudem mit nicht unerheblichen Kosten verbunden ist.

Laut dem Hersteller soll eine Infusion für einen durchschnittlich 74 kg schweren Patienten 4.312 US-Dollar kosten. Da die Behandlung alle 4 Wochen wiederholt werden muss, würden sich die jährlichen Behandlungskosten auf etwa 56.000 US-Dollar summieren. Hinzu kämen noch die Kosten für die vorgesehenen regelmäßigen Untersuchungen, um die Beta-Amyloid-Last zu bestimmen, was eine Positronen-Emissions-Tomographie (PET) erforderlich macht.

Der Hersteller argumentiert, dass die Behandlung eines Alzheimerpatienten bis zu seinem Tod etwa eine halbe Million US-Dollar koste (ohne allerdings zu versprechen, dass sich diese Kosten durch die Behandlung mit Aducanumab tatsächlich vermindern lassen).

Die Fachinformation zu Aducanumab stellt die Biomarkerergebnisse in den Vordergrund. In allen 3 Studien ist es gelungen, die Beta-Amyloid-Last im PET deutlich zu senken. In 2 Studien wurde auch ein deutlicher Rückgang von p-Tau und t-Tau im Liquor registriert.

Ein klinischer Nutzen für die Patienten war dagegen nur in der EMERGE-Studie erkennbar. Im primären Endpunkt der Studie, der „Clinical Dementia Rating-Sum of Boxes“ (CDR-SB) kam es in der Aducanumab-Gruppe über 78 Wochen zu einer Verschlechterung um 1,35 Punkte gegenüber einer Verschlechterung um 1,74 Punkte in der Placebogruppe. Die Differenz von 0,39 Punkten (-22 %) war signifikant (p=0,0120). Die klinische Relevanz ist jedoch vermutlich gering. Der CDR-SB kann Werte von 0 bis 18 Punkte annehmen.

Im Mini-Mental-Status-Test (MMSE), der Werte von 0 bis 30 Punkte annehmen kann, kam es nach 78 Wochen in der Aducanumab-Gruppe zu einer Verschlechterung um 2,7 Punkte gegenüber einer Verschlechterung um 3,3 Punkte in der Placebo-Gruppe. Die Differenz von 0,6 Punkten (-18 %) war ebenfalls signifikant (p=0,0493).

Auch in der „Alzheimer's Disease Assessment Scale-Cognitive Subscale“ (ADAS-Cog), im „Alzheimer’s Disease Cooperative Study – Activities of Daily Living Inventory (Mild Cognitive Impairment version)“ (ADCS-ADL-MCI) und im „Neuropsychiatric Inventory-10“ item (NPI-10) wurden signifikante Vorteile gefunden

Nach den Ergebnissen der EMERGE-Studie kann die Behandlung das Fortschreiten der Demenz demnach leicht verlangsamen, aber keinesfalls stoppen. Einmal verlorene Fähigkeiten werden nicht zurückge­wonnen, was auch nicht unbedingt zu erwarten ist, da untergegangene Hirnzellen bekanntlich nicht ersetzt werden können.

Zu den Risiken der Behandlung gehören Veränderungen in der Magnetresonanztomografie (MRT), die als „Amyloid-related imaging abnormalities“ (ARIA) bezeichnet werden und auch bei anderen Antikörpern beobachtet wurden. Ihnen liegt vermutlich ein Hirnödem zugrunde, zu dem es infolge einer Schädigung der Blut-Hirn-Schranke kommen kann.

Die Fachinformationen geben die Häufigkeit von ARIA-E (E für „edema“) mit 35 % an (gegenüber 3 % in der Placebo-Gruppe). Eine ARIA-H, die auf Mikroblutungen (H für „hemorrhage“) hinweist, wurde bei 21 % gegenüber 16 % gefunden. MRT-Zeichen einer Siderose, eine Eisenablagerung infolge der Blutungen, wurde bei 15 % versus 2 % in den Placebogruppen gefunden.

Kopfschmerzen (21 % versus 16 %), Stürze (15 % versus 12 %), Diarrhö (9 % versus 7 %) sowie ein Composite aus Verwirrung, Delirium, verändertem mentalen Status und Desorientierung (8 % versus 4 %) traten unter der Behandlung mit Aducanumab ebenfalls häufiger auf. © rme/aerzteblatt.de

Kommentare

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Avatar #106067
dr.med.thomas.g.schaetzler
am Mittwoch, 9. Juni 2021, 09:18

Antikörper Aducanumab nicht wirklich zielführend

Da publizieren die besten Demenz-Forscher weltweit: "Dementia prevention, intervention, and care: 2020 report of the Lancet Commission", Prof Gill Livingston et al. am 30.07.2020
DOI: https://doi.org/10.1016/S0140-6736(20)30367-6
und weisen Amyloid-beta-/Tau-Biomarker-Hypothesen zurück: "Amyloid-ß and tau biomarkers indicate risk of progression to Alzheimer's dementia but most people with normal cognition with only these biomarkers never develop the disease."

Alzheimer-Labore zeigen dagegen keine Selbstkritik, dass ihre im Amerikanischen Ärzteblatt (JAMA 2020; DOI:10.1001/jama.2020.12134) und im Journal of Experimental Medicine (2020; DOI:10.1084/jem.20200861) vorgestellten Er­gebnisse bei der Früherkennung von häufigen Demenzursachen reine Makulatur sind. Die Abgrenzung von anderen degenerativen Erkrankungen wird dadurch nicht erleichtert; die Suche nach effektiven Medikamenten hat sich schon mehrfach über Amyloid-ß/Tau-Protein Hypothesen als Fehlschlag erwiesen.

Doch mit Labor- und Medikations-Phantasien lassen sich immer noch mehr Gelder und Forschungsmittel generieren, als mit Verstand und Augenmaß.

"Overall, a growing body of evidence supports the nine potentially modifiable risk factors for dementia modelled by the 2017 Lancet Commission on dementia prevention, intervention, and care: less education, hypertension, hearing impairment, smoking, obesity, depression, physical inactivity, diabetes, and low social contact. We now add three more risk factors for dementia with newer, convincing evidence. These factors are excessive alcohol consumption, traumatic brain injury, and air pollution." Der protektiv wirksame, moderate(!) Alkoholkonsum sollte nicht verschwiegen werden.

Die Autorenschaft schlussfolgert eine Effektivität von 40%: "Together the 12 modifiable risk factors account for around 40% of worldwide dementias..."

Das ist natürlich eine Ansage!

Mf+kG, Ihr Dr. med. Thomas G. Schätzler, FAfAM Dortmund
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