Medizin
Long COVID: Patienten klagen über mehr als 200 verschiedene Symptome
Donnerstag, 15. Juli 2021
London – Die Symptome eines Long COVID, wie die verzögerte Erholung nach einer Infektion mit SARS-CoV-2 bezeichnet wird, können offenbar sehr vielfältig sein. In einer Internetumfrage gaben die Betroffenen mehr als 200 verschiedene Beschwerden an, die bei den meisten auch nach 6 Monaten noch bestanden. Mehr als die Hälfte der Betroffenen waren nach den in EClinicalMedicine (2021; DOI: 10.1016/j.eclinm.2021.101019) veröffentlichten Ergebnissen nicht oder nur eingeschränkt arbeitsfähig.
Für die Residualsymptome, unter der viele Menschen nach einer überstandenen COVID-19 klagen, gibt es derzeit weder eine Krankheitsdefinition noch eine einheitliche Bezeichnung. Neben Long COVID ist von postakutem COVID-19, chronischen COVID, Langzeit-COVID oder „long hauler“ die Rede.
Im Allgemeinen wird gefordert, dass die Symptome länger als 28 Tage nach der überstandenen Infektion anhalten und durch keine andere Erkrankung erklärt werden können. Auch die Zahl der wissenschaftlichen Studien ist derzeit überschaubar.
Die Selbsthilfegruppe „Body Politic“ hat im September 2020 eine Umfrage unter anderen Patientenverbänden und in den sozialen Medien durchgeführt. Bis Ende November hatten 3.762 Betroffenen den ausführlichen Fragebogen ausgefüllt. Die Ergebnisse wurden jetzt zusammen mit Athena Akrami vom University College London ausgewertet.
Obwohl die Fragebögen in 8 verschiedene Sprachen übersetzt wurden (nicht auf Deutsch) kamen mehr als 90 % der Antworten aus englischsprachigen Ländern. Die meisten Teilnehmer waren nur leicht an COVID-19 erkrankt, ein Drittel hatte zwar einen Arzt oder Notarzt kontraktiert, nur 8,43 % waren hospitalisiert wurden. Insgesamt 78,9 % waren weiblich und 17,8 % im Gesundheitswesen beschäftigt.
Die häufigsten Symptome von Long-COVID waren Müdigkeit, eine geringe Belastbarkeit („Post Exertional Malaise“) und kognitive Störungen („Brain Fog“), die bereits in früheren Studien beschrieben wurden. Die Beschwerden waren jedoch nicht darauf beschränkt.
Zu den vielfältigen Symptomen gehörten auch visuelle Halluzinationen, Tremor, Juckreiz, Menstruationsbeschwerden, sexuelle Dysfunktion, Palpitationen, Probleme mit der Blasenkontrolle, Gürtelrose, Gedächtnisverlust, Sehstörungen, Durchfall und Tinnitus. Die Forscher identifizierten insgesamt 203 Symptome in 10 Organsystemen.
Die Dauer von Long-COVID ließ sich zum Zeitpunkt der Umfrage noch nicht abschätzen. Insgesamt 91,8 % hatten sich aber auch nach 35 Wochen noch nicht erholt. Es scheint 3 unterschiedliche Gruppen („Cluster“) zu geben.
Im ersten Cluster treten die Symptome frühzeitig auf, erreichen nach 2 bis 3 Wochen ihren Höhepunkt und klingen dann langsam ab. Die Beschweren betreffen häufig den Magen-Darm-Trakt, Hals/Nase/Ohren-Bereich, Atmung und Allgemeinsymptome wie Fieber.
Im Cluster 2 treten die Symptome frühzeitig auf, erreichen nach 5 bis 10 Wochen ihre höchste Intensität und schwächen sich danach nur langsam ab. Die Beschwerden betreffen Herz-Kreislauf-System, Magen-Darm-Trakt, Bewegungsapparat, Nervensystem/Psyche, Atmung und Allgemeinsymptome. Auch der COVID-Zeh, eine frostbeulenartige schmerzhafte Schwellung, die mehrere Wochen anhalten kann, wurde in dieser Gruppe beobachtet.
Im dritten Cluster beginnen die Symptome milde, steigern sich nach 10 bis 15 Wochen ohne ein spätere Tendenz zur Besserung. In dieser Gruppe treten zusätzlich zu den bereits genannten Störungen auch Menstruationsbeschwerden und Blasenstörungen sowie Allergien bis hin zu anaphylaktischen Störungen auf. Akrami sieht hier Überlappungen mit dem Mastzellaktivierungssyndrom, die noch geklärt werden müssten.
Auffällig war auch ein hoher Anteil von Patienten, die Zeichen eine Dysautonomie hatten, die sich häufig in einem starken Anstieg der Herzfrequenz nach dem Aufstehen zeigte. Ungewöhnlich häufig berichteten die Patienten von einer Reaktivierung von Virusinfektionen wie Herpes, Epstein-Barr, Zytomegalie oder einer Borreliose.
Die „Post Exertional Malaise“ weist laut Akrami auf eine Parallele zum chronischen Erschöpfungssyndrom/Myalgische Enzephalomyelitis hin, das ebenfalls mit früheren Infektionen in Verbindung gebracht wird und häufig einen chronischen Verlauf nimmt.
Die Beschwerden waren bei 45,2 % der Teilnehmer so stark, dass sie ihrer Arbeitszeiten reduzieren mussten, weitere 22,3 % waren zum Zeitpunkt der Umfrage komplett von der Arbeit freigestellt.
Zu den Einschränkungen der Studie gehört, dass sie retrospektiv war und sich auf die Erinnerung der Betroffenen verlässt, die trügen kann („Recall Bias“). Da die Umfrage von einer Selbsthilfegruppe im Internet vorgenommen wurde, sind die Ergebnisse nicht unbedingt repräsentativ für die Störung („Selection Bias“). Die überwiegende Teilnahme von Personen aus englisch-sprachigen Ländern schließt nicht aus, das kulturelle Eigenarten („Cultural Bias“) eine Rolle bei der Bewertung der Symptome gespielt haben. © rme/aerzteblatt.de

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