Ärzteschaft
„Mir ist bange vor dem Winter“
Donnerstag, 30. September 2021
Solingen – Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte sehen zurzeit vermehrt die Auswirkungen der Coronapandemie auf Kinder und Jugendliche in ihren Praxen. Im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt (DÄ) erklärt der Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (bvkj), Thomas Fischbach, wer besonders betroffen ist und welche langfristigen Folgen der Pandemie er erwartet.
Fünf Fragen an Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte
DÄ: Herr Dr. Fischbach, inwiefern sehen die Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte die Auswirkungen der Coronapandemie in ihren Praxen?
Fischbach: Wir sehen, dass bei Kindern und Jugendlichen durch die Coronapandemie insbesondere die psychischen Erkrankungen angestiegen sind. Wir sehen dabei ein großes Spektrum: auffälliges Sozialverhalten, aggressives Verhalten insbesondere bei Jungs und internalisierendes Verhalten bei Mädchen bis hin zu emotionalen Anpassungsstörungen. Ich musste zuletzt mehrere meiner Patienten in eine Jugendpsychiatrie einweisen.
Viele dieser Kinder haben ihre innere Mitte verloren. Sie haben keine Freunde mehr getroffen, keinen Sport gemacht, sie konnten nicht mehr in ihrem Verein aktiv sein. Stattdessen mussten sie im Homeschooling lange Zeit vor dem Bildschirm sitzen und haben hinterher vielfach noch am Computer oder am Handy gespielt. Über Jahre haben wir versucht, dysfunktionales Medienverhalten zu reduzieren. In der Pandemie war das auf einmal nicht mehr wichtig.
Im somatischen Bereich sehen wir insbesondere eine Zunahme von Kindern und Jugendlichen mit Adipositas. Ich habe in meiner Praxis in Solingen einen 13-jährigen Jungen, der zwischen November 2020 und März 2021 13 Kilogramm zugenommen hat. Viele andere haben zwischen fünf und sechs Kilo zugenommen, weil für sie die Möglichkeit weggefallen sind, Sport im Verein zu treiben und weil sich ihr Essverhalten geändert hat. Das verstärkt die Betrübtheit der Kinder und Jugendlichen noch.
Grundsätzlich nehme ich wahr, dass insbesondere Jugendliche durch die Shutdowns betroffen sind, weil sie eine wichtige Entwicklungszeit weitgehend alleine verbringen mussten: die Zeit der ersten Freundin oder des ersten eigenen Urlaubs. Und dann wurden sie noch dafür beschimpft, dass sie sich auf Spielplätzen getroffen haben. Der große Vorwurf, den ich der Politik und der Gesellschaft in dieser Hinsicht mache, ist, dass sie die Kinder in erster Linie als Superspreader gesehen haben.
DÄ: Was kann man jetzt tun, um den Betroffenen zu helfen?
Fischbach: Wir müssen jetzt versuchen, die Kinder und Jugendlichen gezielt vor Ort zu fördern, die während der Pandemie abgehängt wurden. Hier setzt ja auch das Aufholpaket der Bundesregierung an. Die erste Herausforderung ist dabei, dass das Geld dort ankommt, wo es auch gebraucht wird.
Zudem kommt es jetzt darauf an, dass sich Menschen in den Regionen des Themas annehmen. Da sind vor allem Mitarbeiter der Kommunen, aber auch die Schulen gefragt, die zum Beispiel versuchen könnten, Lehrerinnen und Lehrer im Ruhestand dafür zu gewinnen, betroffene Kinder zu Hause zu fördern.
Kinder- und Jugendärzte können neben der direkten Behandlung des Kindes als Vermittler zwischen den verschiedenen Bereichen fungieren, zum Beispiel, indem sie mit den Schulen und Kitas oder mit Beratungsstellen, Wohlfahrtsverbänden oder Müttercafés sprechen, wenn sie Kinder sehen, die Unterstützung brauchen.
DÄ: Was muss sich strukturell verändern?
Fischbach: Für psychisch erkrankte Kinder brauchen wir Anlaufstellen in den Regionen. In Remscheid wurde zum Beispiel vor kurzem eine Institutsambulanz im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie aufgemacht. In vielen ländlichen Regionen sieht es da allerdings schlechter aus. Um das Angebot zu verbessern, müsste man die Bedarfsplanung ändern, um zielgenauer Kinder- und Jugendpsychiater auch in ländliche Regionen zu bringen.
Als Lehre aus der Pandemie sollten wir zudem ernst damit machen, den Öffentlichen Gesundheitsdienst zu stärken, der wirklich über Jahre und Jahrzehnte kaputtgespart worden ist. Darüber hinaus müssen wir dafür sorgen, dass ausreichend Schutzmaterial für die Gesundheitsberufe zur Verfügung steht. Ich erinnere daran, dass wir fast ein Jahr lang ohne ausreichende Schutzmaterialien arbeiten mussten.
Und natürlich müssen wir in Deutschland weiter daran arbeiten, die Impfquote zu erhöhen. Heute gibt es bei uns noch knapp 20 Millionen Erwachsene, die geimpft werden könnten, aber die sich nicht impfen lassen. Das muss für diese Menschen Konsequenzen haben, zum Beispiel bei der Berufsausübung.
Bei der Impfung der Jugendlichen bin ich hingegen zufrieden. Wir liegen jetzt schon, nach kurzer Zeit, bei einer Impfquote von über 40 Prozent. Die Jugendlichen wollen auch geimpft werden, weil sie wissen: Das ist der Weg, über den sie ihr Leben zurückkriegen. Schließlich müssen die Schulen besser ausgestattet werden: digital, aber auch baulich. Da ist noch viel zu tun. Und ich befürworte einen Pandemierat, der sich auch nach der COVID-19-Pandemie kontinuierlich mit der Prävention von Pandemien befasst.
Deutsches Ärzteblatt print
- Kinder und Jugendliche: Die stillen Leiden
- Coronapandemie: Das stille Leiden der Kinder und Jugendlichen
aerzteblatt.de
DÄ: Welche langfristigen Folgen wird die Pandemie für Kinder und Jugendliche haben?
Fischbach: Eine große Rolle spielen hier aus meiner Sicht die Bildungsrückstände bei den vulnerablen Gruppen, die schon vor der Pandemie Probleme in der Schule hatten. Diese Kinder und Jugendlichen sind durch die Pandemie noch weiter abgehängt worden. Darunter sind viele Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, bei denen zu Hause nicht die deutsche Sprache gesprochen wird und die große Probleme mit dem Homeschooling hatten, zum Beispiel, weil sie keinen Laptop zur Verfügung hatten.
Zu den langfristigen Folgen der Pandemie wird aus meiner Sicht gehören, dass die Kinder und Jugendlichen mit Bildungsrückständen vermehrt die Schule abbrechen und aus dem Arbeitsmarkt herausfallen werden.
Unter den Wissenschaftlern gibt es derzeit zwei Gruppen. Die einen glauben, dass sich die Probleme bei den Kindern und Jugendlichen nach dem Ende der Pandemie wieder einruckeln werden. Die anderen glauben, die negativen Effekte werden nachhaltiger sein. Ich fühle mich der letzten Gruppe zugehörig.
DÄ: Und welche Entwicklung erwarten Sie im kommenden Herbst und Winter?
Fischbach: Zurzeit sind die Praxen der Kinderärzte voll. Das liegt unter anderem daran, dass wir früh im Jahr viele Infektionserkrankungen sehen. Auch das ist eine Folge des Shutdowns, denn während des Shutdowns konnte sich das Immunsystem der Kinder nicht ausbilden. Das wird jetzt nachgeholt. Und auch Kinder und Jugendliche mit psychischen Problemen werden wir noch lange in den Praxen sehen. Mir ist bange vor dem Winter. © fos/aerzteblatt.de

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