Ärzteschaft
Schmerzmediziner bemängeln geringe Evidenz für heterogene Cannabisprodukte
Mittwoch, 20. Oktober 2021
Berlin – Seit mehr als vier Jahren ist in Deutschland die Verordnung von medizinischem Cannabis, Cannabisblüten und -extrakten sowie von cannabisbasierten Arzneimitteln auf Rezept möglich – trotz fehlender Zulassung.
Die Evidenz für medizinisches Cannabis auf Basis randomisierter klinischer Studien habe sich seitdem wenig weiterentwickelt, sagte heute Frank Petzke von der Universitätsmedizin Göttingen bei einer Online-Pressekonferenz zum Deutschen Schmerzkongress.
„Für fast alle Indikationen besteht kein sicherer Wirkungsnachweis, insbesondere für Cannabisblüten und -extrakte“, erläuterte der Leiter Schmerzmedizin, Klinik für Anästhesiologie und verwies auf einen „Dschungel an Produkten“ insbesondere bei Cannabisblüten, die kaum in wissenschaftlichen Studien berücksichtigt würden.
Erkenntnisse zur langfristigen Sicherheit bei einer kontinuierlichen, stabilen Cannabisdosierung, etwa bei chronischen Schmerzen, seien ebenfalls unbekannt. Patientinnen und Patienten müssten sich daher im Klaren darüber sein, dass sie sich in einem Selbstversuch befänden und ein Stück weit Eigenverantwortung übernehmen müssten.
Im Jahr 2022 steht die finale Auswertung der gesetzlich geforderten Begleiterhebung an, zu der alle Ärztinnen und Ärzte verpflichtet sind, die medizinisches Cannabis verschreiben.
Bisherige Zwischenauswertungen hatten ergeben: Etwa zwei Drittel der 10.000 dort dokumentierten Patienten berichten über positive Effekte nach einem Jahr Behandlung – vor allem bei chronischen Schmerzen. Petzke bemerkte einschränkend: „Wir erheben hier nur einen Teil, von dem, was wir tatsächlich machen in Deutschland.“
Zahlreiche Anbieter haben den Cannabismarkt in den vergangenen Jahren für sich entdeckt. Dies schaffe einerseits verbesserte therapeutische Optionen, sagte Petzke, mache es den Behandlern und Patienten aber auch schwer, das richtige Präparat auszuwählen.
Gesetzliche Hürden für die Verschreibung von Cannabis-Präparaten
Nur wenn eine schwerwiegende Erkrankung vorliegt, für die die Standardtherapien bereits ausgeschöpft sind oder nicht zur Anwendung kommen können, kann die Kostenübernahme bei der Krankenkasse beantragt werden. Der Behandler muss zudem bescheinigen, dass eine – so das Gesetz – „nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht“. Werden die Bedingungen erfüllt, steht ein breites Spektrum cannabinoidhaltiger Fertigarzneimittel und Zubereitungen in Form diverser Blütenprodukte oder standardisierter Extrakte zur Verfügung.
Im ersten Halbjahr 2021 sei medizinisches Cannabis in Höhe von fast 90 Millionen Euro verschrieben worden. Interessanterweise gehe ein Großteil der Kosten auf die Cannabisblüten, die nur eine relativ kleine Gruppe der Behandelten erhält. „Diese hohe Summe legt nahe, dass ein wirtschaftlich interessanter Markt mit erheblichen Kosten für die Solidargemeinschaft entstanden ist“, so Petzke weiter.
Die Deutsche Schmerzgesellschaft fordert deshalb einen konstruktiven Dialog der beteiligten Interessengruppen im Jahr 2022, an dem sie sich auch aktiv beteiligen wird. Klar sei aber schon jetzt: Klassisch evidenzbasiert würde man zu keiner Lösung kommen.
Und auch zukünftig seien randomisierte Studien aufgrund der Heterogenität des Produktes schwierig durchzuführen. Mehr Evidenz müsste daher aus der klinischen Anwendung kommen. „Wir brauchen kreativere Lösungen, als wir sie im Moment haben“, forderte der Sprecher der Ad-hoc-Kommission „Cannabis in der Medizin“ der Deutschen Schmerzgesellschaft.
„Patienten mit schweren Erkrankungen und Schmerzen sowie deren Ärztinnen und Ärzte haben ein gut nachvollziehbares Interesse an einer Behandlungsoption mit Cannabis“, sagte Petzke abschließend.
Die geringe Evidenz und die fehlende Zulassung für viele potenzielle Indikationen erfordere aber auch eine kritische und rationale Auseinandersetzung mit Genehmigungsverfahren, sinnvollen Indikationen, tatsächlichem Nutzen, langfristigen Risiken und auch den Kosten der Behandlung. © gie/aerzteblatt.de

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