Vermischtes
Pandemiebedingte psychische Belastungen kommen in der Versorgung an
Mittwoch, 10. November 2021
Berlin – Die Folgen der Coronamaßnahmen auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen sind weitreichend und werden jetzt in den psychotherapeutischen und psychiatrischen Praxen sichtbar. Homeschooling, Konflikte mit den Eltern, fehlende soziale Kontakte mit Freunden, Sorgen um Angehörige sowie Zukunftsängste haben Heranwachsende psychisch stark belastet.
„Wir sehen, dass sich die psychischen Probleme der Kinder und Jugendlichen aus dem Lockdown nicht reduzieren“, betonte Stefanie Schmidt, Professorin für Klinische Psychologie des Kindes- und Jugendalters an der Universität Bern bei der Fachveranstaltung „Kinder brauchen mehr/Jugend braucht mehr“ in Berlin. Eingeladen dazu hatte ein bundesweites Bündnis, bestehend aus verschiedenen Psychotherapieverbänden (GK-II-Verbände).
Gerade zeigte der Trendreport des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorg (ZI) für das erste Halbjahr 2021 eine auffällige Zunahme der Inanspruchnahme von Kinder- und jugendpsychotherapeutischen Leistungen.
Diese lag acht Prozent über der vorpandemischen Vergleichsperiode der ersten sechs Monate 2019. Im Juni 2021 lagen die Fallzahlen 37 Prozent über denen des Juni 2019. „Die offenbar pandemiebedingten massiven psychischen Belastungen der unter 18-Jährigen machen sich jetzt zunehmend in der ambulanten Versorgung bemerkbar“, sagte der Zi-Vorstandsvorsitzende Dominik von Stillfried.
Die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) fordert von der Bundesregierung, Maßnahmen zu ergreifen, um die psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen besser zu schützen. „Die Auswirkungen der Pandemie und das Leiden der Heranwachsenden und Familien erleben wir täglich in unseren Praxen“, betonte Michaela Willhauck-Fojkar, Kinder- und Jugendpsychotherapeutin und Vorstandsmitglied der BPtK bei der Fachveranstaltung. Die psychische Widerstandsfähigkeit der Heranwachsenden müsse deshalb mit verschiedenen Maßnahmen gestärkt werden.
Schul- und Kitaschließungen unbedingt vermeiden
Gleichzeitig werden aktuell aufgrund der vierten Coronawelle wieder neue Einschränkungen diskutiert. „Wir können uns nicht sicher sein, dass wieder Maßnahmen auf dem Rücken der Kinder ausgetragen werden – Schul- und Kitaschließungen müssen dabei unbedingt vermieden werden“, forderte Willhauck-Fojkar.
Die Wissenschaftlerin Schmidt beleuchtete einige aktuelle Forschungsergebnisse zur Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie. So habe sich gezeigt, dass die psychische Gesundheit der Eltern oder gar elterlicher Burnout einen großen Einfluss auf die psychische Belastung von Kindern hatte, weniger auf die von Jugendlichen.
Kinder, die nicht mit beiden Elternteilen zusammenleben, hatten zudem weniger Probleme, was mit Paarkonflikten unter Lockdownbedingungen zusammenhänge. Entscheidend für Belastungen war Schmidt zufolge auch die Art der Kommunikation in Familien. Kinder unter sieben Jahren hätten oft nicht verstanden, warum die Eltern gestresst waren und diese es nicht erklären können.
Vulnerable Gruppen im Auge behalten
„Eine große Anzahl Kinder und Jugendlicher erlebt Stress und psychische Probleme in der Coronapandemie“, sagte Schmidt. Um gegenzusteuern, brauchten sie Monitoring und Unterstützungsangebote; insbesondere die vulnerablen Gruppen. Im Auge behalten müsse man auch die Lebensspannenperspektive der Heranwachsenden im Hinblick auf Transitionen und Zukunftsängste.
Als vulnerable Gruppen kennzeichnete Johanna Thünker, Vorsitzende des Verbands Psychologischer Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten (VPP) insbesondere Kinder mit Migrationshintergrund, sozial benachteiligte Kinder, Heranwachsende mit schweren chronischen Erkrankungen oder Behinderungen, Opfer häuslicher Gewalt sowie Long-COVID-Betroffene. „Diese Kinder und Jugendlichen müssen wir besonders unterstützen und im Blick behalten“, sagte Thünker.
Die Psychologische Psychotherapeutin machte zudem darauf aufmerksam, dass die Kernherausforderungen des Erwachsenwerdens, wie Verselbstständigung und Selbstpositionierung, für Jugendliche durch den Lockdown unterbrochen wurden. Zugenommen hätten stattdessen Zukunftsängste, Leistungsdruck und Vereinsamung. Auch das müsse man im Blick behalten.
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Sonderbedarfszulassungen zur Sicherstellung der Versorgung
Der vermehrte Bedarf an psychosozialer und psychotherapeutischer Versorgung hat die bestehende Unterversorgung im kinder- jugendpsychotherapeutischen Bereich noch verschärft. Darin waren sich alle Beteiligten der Fachveranstaltung einig. VPP-Vorsitzende Thünker wies auf darauf hin, dass die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) hier in der Pflicht seien, die Versorgung sicherzustellen.
Das gehe auch aus dem Gemeinsamen Bericht von Bundesgesundheitsministerium und Bundesbildungsministerium zur gesundheitlichen Situation von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie (30. Juni 2021) hervor. Sonderbedarfszulassungen seien hier eine Möglichkeit, so Thünker.
Mit dem Aktionsprogramm „Aufholen nach Corona“ stellt die Bundesregierung in den Jahren 2021/2022 zwei Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Neben einer Milliarde Euro für den Abbau von Lernrückständen, wird mit einer zweiten Milliarde Euro die Unterstützung für Kinder, Jugendliche und Familien durch das Bundesfamilienministerium geleistet.
Damit können junge Menschen beispielsweise Ferienfreizeiten und Familienerholung bekommen. Zugleich sollen Kinder und Jugendliche durch massive Aufstockung der Schulsozialarbeit in ihren sozialen Kompetenzen unterstützt und bei der Rückkehr in den Alltag psychosozial begleitet werden.
Daneben gibt es noch viele kleine Maßnahmen auf Länderebene. Die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Ariadne Sartorius vom Bundesverband der Vertragspsychotherapeuten (bvvp) bezeichnete die Maßnahmen grundsätzlich als wichtig aber auch als „inhomogen“. Oftmals sei nicht klar, ob sie nicht schon vor Coronazeiten da waren. „Es gibt viele kleine Projekte. Wir brauchen aber eine große Kugel, in der die Angebote gebündelt sind, und aus der sie transparent abgerufen werden können, forderte Sartorius. © PB/aerzteblatt.de

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