Ausland
„Wir müssen Regierungen erinnern, worum es beim Klimaschutz geht: um Menschenleben“
Freitag, 12. November 2021
Glasgow – Nach zwei Wochen geht die Klimakonferenz in Glasgow heute zu Ende. In den ersten Fassungen der Abschlusserklärung kommt das Wort Gesundheit nicht vor. Auch die Schlagwörter Krankheit, Dürre, Hunger oder Versorgung finden sich darin nicht. Dabei sind sie alle eng verknüpft mit dem Klimawandel. Weltweit leiden immer mehr Menschen unter seinen Folgen, werden krank, sterben früher. Hilfs- und Gesundheitsorganisationen haben den Zusammenhang erkannt und versuchen sich in die politische Diskussion einzubringen.
Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (Médecins Sans Frontières – MSF) hat in diesem Jahr zum ersten Mal an einer Klimakonferenz teilgenommen. Die Politik diskutiere vor allem über Energieversorgung, Grenzwerte und Emissionshandel, die starken Auswirkungen auf die globale Gesundheit stünden bislang nicht im Fokus, berichtet Stephen Cornish, Generaldirektor von Ärzte ohne Grenzen in der Schweiz.
5 Fragen an Stephen Cornish, Generaldirektor von Ärzte ohne Grenzen Schweiz
DÄ: Warum hat Ärzte ohne Grenzen in diesem Jahr erstmals an einem Klimagipfel teilgenommen?
Cornish: Wir wissen schon lange um den Zusammenhang von Klimawandel und Gesundheit. Wir hören davon weltweit von unseren Patienten und wir sehen die Effekte des Klimawandels in den Lebensumständen vor allem der Ärmsten. Die Zahl derer, die keinen Zugang zu einer Grundversorgung haben, wächst.
Wir sind in diesem Jahr hier, um unserer Stimme Gehör zu verschaffen und dafür zu sorgen, dass dieser Zusammenhang stärker gesehen wird. Wir wollen neue Partner finden, mit denen wir das Problem anpacken und unsere Reichweite vergrößern können. Wir wollen durch Gespräche mit Experten aber auch die Qualität unserer eigenen Leistung verbessern, denn auch wir können klimafreundlicher arbeiten und wollen Teil der Lösung sein. Diesbezüglich konnte ich hier schon viel lernen.
DÄ: Welche Aspekte des Klimawandels bereiten Ihnen bei Ihrer Arbeit besonders große Sorgen?
Cornish: Es gibt zahlreiche Beispiele überall auf der Welt. In Teilen Afrikas werden die Trockenperioden immer länger, in der Folge sehen wir Ausbrüche von Meningitis. Es gibt einen extremen Anstieg von Malariaerkrankungen.
Die Früchte auf den Feldern wachsen nicht mehr richtig, die Menschen können weniger ernten, viele sind mangelernährt. Dort wo es durch den Klimawandel vermehrt zu Hurrikanes gekommen ist, steigt die Zahl der Dengue-Erkrankungen. Das sind alles sehr reale Folgen des Klimawandels, die wir jeden Tag bei unserer Arbeit sehen.
Es kommt dadurch auch zu immer größeren Migrationsbewegungen, beispielsweise der Menschen, die Tiere halten. Durch die Dürreperioden und Unwetter sterben deutlich mehr Tiere. Auf der Suche nach Wasser und Weidegründen müssen immer größere Entfernungen in Kauf genommen werden. In Mittelamerika gibt es immer extremere Massenbewegungen Richtung USA.
Oft heißt es, die Menschen fliehen vor Gewalt und Verbrechen. Wenn man aber nachfragt, erfährt man, dass viele schon seit Jahren keine Ernten mehr einbringen konnten, um ihre Familien zu ernähren. Somit verschärft der Klimawandel bestehende Konflikte oder wirtschaftliche Krisen, was Menschen vermehrt in die Flucht zwingt.
DÄ: Haben Sie den Eindruck, dass ihre Anliegen auf der Konferenz wahrgenommen wurden?
Cornish: Die positive Seite ist, dass wir in diesem Jahr zum ersten Mal gesehen haben, dass das Thema Gesundheit auch Erwähnung findet. Dennoch steht sie nicht auf der offiziellen Agenda. Finanzen und Energie sind ganze Tage gewidmet, für Gesundheit gilt das bisher nicht, obwohl dieser Bereich so fundamental ist. Das müssen wir ändern. Ich kann gar nicht erklären, warum dieses Thema nicht schon längest als deutlich wichtiger wahrgenommen wird.
Einige Akteure haben noch immer nicht verstanden, dass es beim Thema Klima nicht nur darum gehen kann, den Wohlstand des eigenen Landes aufrecht zu erhalten, sondern dass wir es mit einem globalen Problem zu tun haben. Vieles bewegt sich auf dem theoretischen Level.
Es gibt die Versprechen, Emissionen zu reduzieren und erneuerbare Energien auszubauen, das sind wichtige Entwicklungen. Aber, obwohl wir sie dringend brauchen, können nicht nur zukünftige Technologien im Zentrum der Strategie stehen. Wir müssen die Regierungen daran erinnern, warum es überhaupt wichtig ist, den Klimawandel zu bekämpfen: Um Menschenleben zu retten.
DÄ: Was muss sich aus Ihrer Sicht an der Diskussion ändern?
Cornish: Wir müssen die Menschen ins Zentrum der Debatte stellen. Bis jetzt ist das nicht so. Es kann hier nicht nur darum gehen, dass die Industriestaaten ihren Lebensstil ein bisschen umstellen. Es geht hier um die globale Gesundheitsversorgung aller Menschen, die gefährdet ist. Dafür brauchen wir saubere Luft und sauberes Wasser, Lebensmittel, gesunde Tiere und Artenvielfalt. Wir behandeln die Erde als wäre sie entsorgbar, das können wir uns nicht leisten. Wir sind in einer existenziellen Krise, die genauso angegangen werden sollte wie die Coronapandemie: Alle müssen mit anpacken.
Deutsches Ärzteblatt print
- Klimaschutz im Gesundheitswesen: Klimaneutralität bis 2030
- Klimaschutz: Wenn Menschen gesünder leben
- video.aerzteblatt.de: Vor laufender Kamera
aerzteblatt.de
DÄ: Was werden Sie für Ihre Arbeit von der Konferenz mitnehmen?
Cornish: Ich habe wertvolle Kontakte geknüpft und nehme viele Anregungen mit, wie wir unseren eigenen ökologischen Fußabdruck verkleinern können, etwa wie sich einige medizinische Abfälle vermeiden lassen und wie man eine Arbeitskultur schaffen kann, in der Umweltschutz mitgedacht wird. Man kann solche Entwicklungen nicht von oben auf eine Organisation stülpen, es muss auch von Innen heraus funktionieren.
Das kann sich in vielen Bereichen bemerkbar machen. Bisher haben wir beispielsweise meist von einer Zentrale aus gearbeitet. Im Zuge des Klimawandels scheint es aber sinnvoller Operationen zu regionalisieren, müssen uns noch stärker mit der lokalen Gemeinschaft verbinden und darüber nachdenken, bestimmte Dinge vor Ort zu kaufen, um Lieferwege zu vermeiden und die Region zu unterstützen.
Und die Menschen müssen informiert werden. Der Zusammenhang zwischen dem Klimawandel und so vielen Krankheiten muss eine viel größere Rolle spielen. Diese Nachricht möchte ich nach dieser Konferenz auch an alle Ärztinnen und Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger richten: Nutzten Sie Ihre Stimme, um Wandel möglich zu machen. Die Gesundheitsgemeinschaft kann eine Schlüsselrolle dabei spielen, die nötigen Schritte einzuleiten und mehr Aufmerksamkeit dafür zu bekommen, wie entscheidend die globale Gesundheit durch den Klimawandel beeinflusst wird. © alir/aerzteblatt.de

Nachrichten zum Thema


Kommentare
Die Kommentarfunktion steht zur Zeit nicht zur Verfügung.