NewsVermischtesPeer-Netzwerke für Kliniker beseitigen rassistische und geschlechts­spezifische Vorurteile
Als E-Mail versenden...
Auf facebook teilen...
Twittern...
Drucken...

Vermischtes

Peer-Netzwerke für Kliniker beseitigen rassistische und geschlechts­spezifische Vorurteile

Donnerstag, 18. November 2021

/motortion, stock.adobe.com

Pennsylvania – Rassistische und geschlechtsspezifische Vorurteile können die Anamnese von Ärzten be­einflussen. Der Austausch in Peer-Netzwerken wirkt dem entgegen und bietet eine siche­rere und gerech­tere Gesundheitsversorgung für Frauen und Minderheiten. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie in Nature Communications (2021; DOI: 10.1038/s41467-021-26905-5).

Forschende der Annenberg School for Communication und der School of Engineering and Applied Scien­ce hatten 840 Ärztinnen und Ärzten ein Anamnesevideo gezeigt. Die Hälfte sah einen weißen männli­chen Schauspieler, der als Patient auftrat, über Schmerzen in der Brust klagte und einige Risikofaktoren für Herzkrankheiten schilderte, etwa Alter, Hyperlipidämie und schnelle Ermüdung bei Belastung. Die andere Hälfte sah eine schwarze, ähnlich gekleidete Schauspielerin als Patientin, die einen identischen Sachverhalt erläuterte.

Beide Videos wurden von einem identischen Elektrokardiogramm begleitet, das Anomalien aufwies. Die Wahrscheinlichkeit eines schwerwiegenden unerwünschten kardialen Ereignisses innerhalb der nächsten 30 Tage lag bei 16 Prozent (auf Grundlage des HEART-Scores).

Anhand der übereinstimmenden Patienteninformationen wählten die teilnehmenden Ärzte eine von vier Behandlungsempfehlungen aus: eine unsichere Option A (Täglich 81 mg Aspirin und Rückkehr in die Klinik in einer Woche), eine unzureichende Behandlungsoption B (Täglich 81 mg Aspirin und Stresstest innerhalb von zwei bis drei Tagen), die korrekte, von den Leitlinien empfohlene Option C (Aspirin in voller Dosis und Überweisung in die Notaufnahme zur Bewertung und Überwachung) oder eine Behandlungs­option D, die über die Empfehlungen bei einer unbestätigten Diagnose hinausging (Aspirin in voller Dosis und Überweisung in die Kardiologie zur dringenden Herzkatheteruntersuchung).

Die Ergebnisse zeigten, dass sich die Ärzte deutlich von Geschlecht und ethnischer Herkunft (race) beeinflussen ließen. Die schwarze Patientin wurde mit einer mit 49 Prozent höheren Wahrscheinlichkeit nach Hause geschickt als der weiße Patient. Umgekehrt war die Wahrscheinlichkeit, in die Notaufnahme eingewiesen zu werden, bei den weißen männlichen Patienten um 78 Prozent höher als bei den schwarzen weiblichen Patientinnen.

Die Ergebnisse bestätigten eine gut dokumentierte Tatsache des amerikanischen Gesundheitswesens, heißt es in der Pressemitteilung der University of Pennsylvania: die weit verbreitete Voreingenommen­heit gegenüber Race und Geschlecht in der Medizin.

Anonyme Peer-Netzwerke sorgen für Korrektur

Um den Einfluss von Peer-Netzwerken zu untersuchen, unterteilten die Forschenden die Gruppen in eine Versuchsgruppe und eine Kontrollgruppe. Die Kontrollgruppe sah sich das Video drei Mal ohne Input von anderen Teilnehmenden an. Trotz der Möglichkeit, ihre Empfehlungen zu überarbeiten, blieben sie bei ihrer vorherigen Einschätzung.

In der Versuchsgruppe waren die Teilnehmenden in anonyme Peer-Netzwerke mit 40 anderen Ärztinnen und Ärzten eingebunden. Jeder konnte die Bewertungen der anderen Netzwerkteilnehmenden einsehen und seine Empfehlungen in der zweiten Videorunde berichtigen.

Die Peer-Netzwerke verbesserten die klinische Genauigkeit und beseitigten Behandlungsunterschiede, so dass weiße männliche Patienten und schwarze weibliche Patientinnen, die in den Leitlinien empfohlene Behandlung in gleichem Maße erhielten. Eine unsichere Behandlung (Option A) wurde in beiden Ver­suchs­gruppen seltener ausgewählt als in der Kontrollgruppe: -1,6 Prozentpunkte weniger unter den Kontrollbedingungen, -11,8 Prozentpunkte weniger unter den Netzbedingungen.

Auffallend war, dass die Empfehlung unnötiger invasiver Eingriffe (Option D) für Männer und Frauen mithilfe des Peer-Netzwerks signifikant gesenkt wurden (-2,8 Prozentpunkte), während sie unter den Kontrollbedingungen anstiegen (+3,1 Prozentpunkte).

„Wir neigen dazu, an Ärzte zu denken, die rationale Entscheidungen auf der Grundlage medizinischer Erkenntnisse treffen“, sagt Erstautor Damon Centola von der University of Pennsylvania, „dabei ist eine medizinische Voreingenommenheit oft in beruflichen Normen verwurzelt.“ Eine Änderung der Netzwerke von Ärztinnen und Ärzten könne diese Normen verändern und zu qualitativ hochwertigeren Behand­lungs­­empfeh­lungen für Minderheiten führen.

Es gibt zwar auch in der Medizin offenen Rassismus, das Hauptproblem sind aber vorurteilsbeladene Einstellungen, die Ärztinnen und Ärzten oft kaum bewusst sind. Ernst Girth, Rassismusbeauftragter der Landesärztekammer Hessen

Rassismus im deutschen Gesundheitswesen

Rassismus und geschlechtsspezifische Vorurteile seien auch im deutschen Gesundheitswesen weit ver­breitet, sagte der Kardiologe Ernst Girth dem Deutschen Ärzteblatt (DÄ) auf Nachfrage. Diese Erfahrung habe er sowohl in der Klinik als auch in seinen knapp zwei Jahren Arbeit als Rassismus­beauftragter der Landesärztekammer Hessen (LÄKH) gemacht.

„Es gibt zwar auch in der Medizin offenen Rassismus, das Hauptproblem sind aber vorurteilsbeladene Einstellungen, die Ärztinnen und Ärzten oft kaum bewusst sind. Wenn sie unreflektiert bleiben, führen sie sicher zu seelischen Verletzungen, wahrscheinlich aber auch häufiger als angenommen zu Fehlern in Diagnostik und Therapie“, erläuterte Girth, der bereits seit 1997 Menschenrechtsbeauftragter der LÄK Hessen ist.

Girth ist sich sicher, dass die meisten Landesärztekammern dem Hessischen Beispiel folgen werden und Rassismusbeauftragte ernennen werden. Diese könnten sich aber nur dem Problem des ärztlichen Ver­haltens widmen, vermitteln und die Einhaltung der Grundsätze des Genfer Gelöbnisses einfordern.

„Für die medizinischen Konsequenzen halte ich Fortbildungsanstrengungen auf allen Ebenen und sicher auch Peer-Netzwerke für enorm wichtig“, so Girth. Hier seien nicht nur die Bundesärztekammer (BÄK), sondern alle medizinischen Fachbereiche der Universitäten und alle Fachgesellschaften der Medizin gefordert.

Im Interview mit der Zeitschrift für Komplementärmedizin sagte er im Februar 2021: „Ich hoffe, dass die Sensibilisierung in den Kammern dazu führt, das Problem wissenschaftlich mehr anzugehen.“ Es exis­tiere mit Sicherheit ein Riesenkomplex an Fragen, die aber in Deutschland und auch international nur spärlich behandelt werden würden.

Als äußert problematisch sehen wir dabei jedoch, dass in der medizinischen Lehre und im klinischen Alltag viele Vorurteile gar nicht erst als solche, sondern als medizinisch richtig angesehen werden. Julius Poppel, außeruniversitäre Gruppe „Kritische Medizin München“

Vorurteil oder medizinisch richtig?

Im Jahr 2020 veröffentlichte die basisdemokratische und außeruniversitäre Gruppe „Kritische Medizin München“ einen Essay zum Thema Rassismus in der Medizin. Die drei Autorinnen und Autoren wollten eine Analyse des strukturellen Rassismus im Gesundheitswesen vorlegen.

Sie nennen mehrere Beispiele aus Medizin, bei denen Schwarze Menschen (Black and People of Color, BIPoC) benachteiligt werden, etwa bei der Diagnose von Hautkrebs, der Einordnung von Kreatininwerten oder einer unzureichenden Schmerztherapie.

„Als äußert problematisch sehen wir dabei jedoch, dass in der medizinischen Lehre und im klinischen Alltag viele Vorurteile gar nicht erst als solche, sondern als medizinisch richtig angesehen werden“, teilte Medizinstudent Julius Poppel Co-Autor und Mitglied der Gruppe „Kritische Medizin München“ dem mit. So würden sich pseudowissenschaftliche Annah­men wie der Morbus mediterraneus halten und zu einer schlechte­ren Schmerzbehandlung von bestimm­ten Bevölkerungsgruppen führen.

Vorurteile und vermeintliche genetische Unterschiede wären immer noch fester Bestandteil der akade­mischen Lehre sowie von wissenschaftlichen Modellen, heißt es im Essay. Die Gruppe plädiert daher da­für, Antidiskriminierungsmodule in der medizinischen Lehre zu implementieren (BMJ Opinion 2021) und die Auswirkungen von Rassismus und internalisierter Stereotype durch medizinisches Personal zu erforschen. Auch Peer-Netzwerke wären beispielsweise als digitale Korrektivfunktion denkbar.

NEJM macht Angaben zu „race“ ab 2022 verpflichtend

Die „race”-Zuordnungen hält das Autorentrio der Gruppe „Kritische Medizin München“ für „willkürlich und subjektiv”. Würden diese zur klinischen Entscheidungsfindung herangezogen, würden sie ein starkes Machtinstrument des Gesundheitspersonals gegenüber Patienten darstellen. Auch „race-adjustierte” Algorithmen seien meist von Nachteil für BIPOC.

Dennoch sei „race“ ein soziales Konstrukt und daher gleich oder ähnlich der SDH (social determinants of health), das weitgehende Auswirkungen auf die Gesundheit von Menschen habe. „Ein wichtiger erster Schritt ist dabei die Abkehr von einem biogenetischen Verständnis von ‚Rasse‘, welches bis heute die Medizin prägt", erläuterte die außeruniversitäre Gruppe „Kritische Medizin München“ dem .

Dieses Verständnis reproduziere rassistische Strukturen und ignoriere die soziale Ebene von Gesundheit. Solange eine Information Gap herrsche, das heißt klinische Forschungsergebnisse auf die Behandlung unterrepräsentierter Bevölkerungsgruppen extrapoliert würden, bedürfe es einer Aufarbei­tung dieser Wissenslücken (NEJM 2021). Den Vorstoß des New England Journal of Medicine (NEJM) begrüßt die Gruppe aber.

Das Fachjournal hatte kürzlich angekündigt, ab 2022 nur noch Studien zu veröffentlichen, die Informa­tio­nen über Geschlecht, Alter und geografische Herkunft sowie „race” oder ethnische Zugehörigkeit der Studienteilnehmenden enthalten. Denn bestimmte Erkrankungen würden nachweislich unterschiedlich häufig in verschiedenen Bevölkerungsgruppen auftreten, so die Begründung des Fachjournals.

„Wir sind davon überzeugt, dass diese Anforderung zu mehr Überle­gungen und Anstrengungen bei der Rekrutierung von angemessen repräsentativen Studienteilnehmern führen wird”, schreiben die Heraus­geber in einem Editorial.

Den Ansatz des NEJM hält auch der Rassismusbeauftragte der LÄK Hessen für einen Schritt in die rich­tige Richtung. „Er kann dazu führen, dass uns überhaupt erst klar wird, wie einseitig auf weiße Menschen bezogen die medizinische Wissenschaft ist und wie dringend wir lernen müssen zu diffe­renzieren statt auszugrenzen.” © gie/aerzteblatt.de

LNS
VG WortLNS LNS

Fachgebiet

Stellenangebote

    Weitere...

    Archiv

    NEWSLETTER