Politik
Budgetierung für Hausärzte soll wegfallen, auskömmliche Finanzierung für Pädiatrie, Notfallversorgung und Geburtshilfe
Mittwoch, 24. November 2021
Berlin – Einen „Aufbruch in eine moderne sektorenübergreifende Gesundheits- und Pflegepolitik“ will die Ampelkoalition von SPD, Grünen und FDP mit ihrem heute vorgestellten Koalitionsvertrag erreichen. Eine bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung, verbesserte Arbeitsbedingungen der Gesundheitsberufe und Pflegekräfte sowie Chancen für Innovationen und verstärkte Digitalisierung sollen mit einer „auf lange Sicht stabilen Finanzierung“ des Gesundheitswesens und der Pflege verknüpft werden.
Im Bereich der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung soll unter anderem die Budgetierung der ärztlichen Honorare im hausärztlichen Bereich aufgehoben werden, so heißt es im 177-Seiten starken Vertrag. Die wohnortnahe Versorgung soll zudem durch den Ausbau multiprofessioneller, integrierter Gesundheits- und Notfallzentren mit entsprechend spezifischen Vergütungsstrukturen gestärkt werden. Auch die Gründung von kommunal getragenen Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) und deren Zweigpraxen soll erleichtert werden.
Eine Erhöhung der Attraktivität von bevölkerungsbezogenen Versorgungsverträgen (Gesundheitsregionen) sowie erweiterte gesetzliche Spielräume für Verträge zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern sollen dazu beitragen, innovative Versorgungsformen zu stärken. In diesem Kontext sieht der Koalitionsvertrag auch die Förderung von niedrigschwelligen Beratungsangeboten wie beispielsweise Gesundheitskioske, Gemeindeschwestern und Gesundheitslotsen vor.
Einen weiteren wichtigen Punkt stellt die geplante Aufnahme des Rettungswesens als integrierten Leistungsbereich in das Sozialgesetzbuch V (SGB V) dar. In integrierten Notfallzentren soll in engerer Zusammenarbeit zwischen Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) und Krankenhäusern stattfinden. Die Rettungsleitstellen sollen mit den KV-Leitstellen verknüpft werden sowie ein standardisiertes Einschätzungssystem kommen. Man räume den KVen „die Option ein, die ambulante Notfallversorgung dort selbst sicherzustellen oder diese Verantwortung in Absprache mit dem Land ganz oder teilweise auf die Betreiber zu übertragen“.
Vorgesehen ist auch eine Reform der psychotherapeutischen Bedarfsplanung, um Wartezeiten auf einen Behandlungsplatz – insbesondere für Kinder- und Jugendliche, aber auch in ländlichen und strukturschwachen Gebieten – „deutlich“ zu reduzieren. Grundsätzlich solle die ambulante psychotherapeutische Versorgung insbesondere für Patienten mit schweren und komplexen Erkrankungen verbessert werden, so die Ampelkoalitionäre.
Krankenhausplanung und -finanzierung
Eine „kurzfristig“ eingesetzte Regierungskommission soll laut der Ampelkoalition eine sich an Kriterien wie der Erreichbarkeit und der demographischen Entwicklung orientierende Krankenhausplanung erarbeiten. Das Konzept werde auf Leistungsgruppen und Versorgungsstufen basieren.
Ein zusätzlicher Arbeitsauftrag für die Kommission sieht die Vorlage von Empfehlungen für eine Weiterentwicklung der Krankenhausfinanzierung vor. Demnach soll das bisherige System um ein nach Versorgungsstufen (Primär-, Grund-, Regel-, Maximalversorgung, Uniklinika) differenziertes System erlösunabhängiger Vorhaltepauschalen ergänzt werden. Eine „auskömmliche Finanzierung“ für die Pädiatrie, Notfallversorgung und Geburtshilfe werde man kurzfristig sicherstellen.
„Mit einem Bund-Länder-Pakt bringen wir die nötigen Reformen für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung auf den Weg.“ – Auszug aus dem Koalitionsvertrag
Um die Ambulantisierung „bislang unnötig stationär erbrachter Leistungen“ zu fördern, will die künftige Regierungskoalition für geeignete Leistungen zügig eine sektorengleiche Vergütung durch sogenannte Hybrid-DRG umsetzen.
Gemeinsam mit den Bundeländern sollen die ambulante Bedarfsplanung und die stationäre Krankenhausplanung perspektisch zu einer sektorenübergreifenden Versorgungsplanung weiterentwickelt werden.
Digitalisierung im Gesundheitswesen
Einen zentralen Punkt der gesundheitspolitischen Inhalte des Vertrages stellt die vorgesehene „regelmäßig fortgeschriebene Digitalisierungsstrategie im Gesundheitswesen und in der Pflege“ dar. Hierbei solle der Fokus insbesondere auf die Lösung von Versorgungsproblemen und die Perspektive der Nutzerinnen und Nutzer gerichtet werden.
Man wolle regelhaft telemedizinische Leistungen – inklusive Arznei-, Heil- und Hilfsmittelverordnungen sowie Videosprechstunden, Telekonsile, Telemonitoring und die telenotärztliche Versorgung – ermöglichen, wie es heißt.
Geplant ist auch eine Beschleunigung der Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA) und des E-Rezeptes sowie deren nutzenbringende Anwendung. Die ePA soll auf ein Opt-out-Verfahren umgestellt werden.
„Alle Versicherten bekommen DSGVO-konform eine ePA zur Verfügung gestellt; ihre Nutzung ist freiwillig (opt-out).“ – Auszug aus dem Koalitionsvertrag
Für die Gematik ist ein Umbau zu einer „digitalen Gesundheitsagentur“ geplant. Zudem soll ein Registergesetz und ein Gesundheitsdatennutzungsgesetz zur besseren wissenschaftlichen Nutzung in Einklang mit der DSGVO auf den Weg gebracht sowie eine dezentrale Forschungsdateninfrastruktur aufgebaut werden.
Man werde auch das SGB V und weitere Normen hinsichtlich durch technischen Fortschritt überholter Dokumentationspflichten überprüfen. Ein Bürokratieabbaupaket solle Hürden für eine gute Versorgung reduzieren. Verfahrenserleichterungen, die sich in der Coronapandemie bewährt haben, könnten verstetigt werden.
Gesundheitsförderung ausbauen
Als weiteres wichtiges Vorhaben wird eine Weiterentwicklung des Präventionsgesetzes genannt – die Primär- und Sekundärprävention solle gestärkt werden. Mit einem nationalen Präventionsplan sowie konkreten Maßnahmenpaketen sollen Themen wie Alterszahngesundheit, Diabetes, Einsamkeit, Suizid, Wiederbelebung und Vorbeugung von klima- und umweltbedingten Gesundheitsschäden angegangen werden.
Zugunsten verstärkter Prävention und Gesundheitsförderung werde man die Möglichkeiten der Krankenkassen, Beitragsmittel für Werbemaßnahmen und Werbegeschenke zu verwenden, reduzieren.
Arzneimittelversorgung
Mit einer flexibleren Apothekenbetriebsordnung soll die Arzneimittelversorgung auch an integrierten Notfallzentren in unterversorgten Regionen sichergestellt werden. Auch soll das „Gesetz zur Stärkung der Vor-Ort-Apotheken“ reformiert werden, um pharmazeutischen Dienstleistungen besser zu honorieren.
Generell soll die „Versorgung mit innovativen Arzneimitteln und Impfstoffen“ sichergestellt werden. Engpässe sollen bekämpft und die Herstellung von Wirk- und Hilfsstoffen in die EU oder auch nach Deutschland zurück verlagert werden. Dazu gehört auch, dass die neue Koalition Investitionsbezuschussungen für Produktionsstätten prüfen will.
Stärkung der Pflege
Der „Dramatik der Situation“ in der Pflege begegne man mit Maßnahmen, die schnell und spürbar die Arbeitsbedingungen verbessern. Kurzfristig werde man zur verbindlichen Personalbemessung im Krankenhaus die Pflegepersonalregelung 2.0. (PPR 2.0) als Übergangsinstrument mit dem Ziel eines bedarfsgerechten Qualifikationsmixes einführen. In der stationären Langzeitpflege soll der Ausbau der Personalbemessungsverfahren beschleunigt werden.
Auch sollen insbesondere dort Löhne und Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte mit dem Ziel verbessert werden, die Gehaltslücke zwischen Kranken- und Altenpflege zu schließen. Grundsätzlich wolle man den Pflegeberuf attraktiver machen – etwa mit Steuerbefreiung von Zuschlägen oder auch durch die Abschaffung geteilter Dienste.
Die Tages- und Nachtpflege sowie insbesondere die solitäre Kurzzeitpflege sollen weiter ausgebaut werden. Leistungen wie die Kurzzeit- und Verhinderungspflege fasse man in einem unbürokratischen, transparenten und flexiblen Entlastungsbudget mit Nachweispflicht zusammen, um so die häusliche Pflege zu stärken.
Öffentlichen Gesundheitsdienst ertüchtigen
Beim Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) sollen verlängerte Einstellungsfristen gelten, zudem appelliere man an die Sozialpartner, einen eigenständigen Tarifvertrag zu schaffen. Auf der Grundlage des Zwischenberichts würden die notwendigen finanziellen Mittel für einen dauerhaft funktionsfähigen ÖGD bereitgestellt.
Ein Gesundheitssicherstellungsgesetz soll die effiziente und dezentrale Bevorratung von Arzneimittel- und Medizinprodukten sowie regelmäßige Ernstfallübungen für das Personal für Gesundheitskrisen sicherstellen.
„Als Lehre aus der Pandemie bedarf es eines gestärkten Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD), der im Zusammenspiel zwischen Bund, Ländern und Kommunen sichergestellt wird.“ – Auszug aus dem Koalitionsvertrag
Zur weiteren Erforschung und Sicherstellung einer bedarfsgerechten Versorgung rund um die Langzeitfolgen von COVID-19 sowie für das chronische Fatigue-Syndrom (ME/CFS) soll ein deutschlandweites Netzwerk von Kompetenzzentren und interdisziplinären Ambulanzen etabliert werden.
Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) soll nach den Plänen der Ampelkoalition in einem Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit am Bundesministerium für Gesundheit (BMG) aufgehen, in dem die Aktivitäten im Public-Health Bereich, die Vernetzung des ÖGD und die Gesundheitskommunikation des Bundes angesiedelt sind.
Gesundheitsziele
Beim Thema Geburtshilfe will die neue Koalition das nationale Gesundheitsziel „Gesundheit rund um die Geburt“ in einen Aktionsplan umsetzen. Dazu zählt auch das Ziel, in Kreißsälen eine 1:1-Betreuung durch Hebammen zu gewährleisten.
Auch soll der Ausbau von hebammengeleitete Kreißsäle gefördert werden. Zudem soll es eine Möglichkeit zur Vergütung von Hebammen geben, die an Kliniken angestellt sind, aber auch ambulante Geburtsvor- und nachsorge anbieten.
Bis Ende 2022 soll ein Aktionsplan erarbeitet werden, wie die Versorgung von schwerstbehinderten Kindern besser gewährleistet werden kann. Dazu zählen auch Medizinische Behandlungszentren für Erwachsene.
Gendermedizin soll Teil des Medizinstudiums sowie Teil von Aus-, Fort- und Weiterbildung der Gesundheitsberufe werden. Die paritätische Beteiligung von Frauen in den Führungsgremien der Selbstverwaltungsgremien im Gesundheitswesen soll gestärkt werden.
Selbstverwaltung reformieren
Mit einer Reform des Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) sollen die „Entscheidungen der Selbstverwaltung“ beschleunigt werden. Die Pflegeverbände sollen ein eigenes Stimmrecht bekommen. Auch andere Gesundheitsberufe sollen Mitsprachemöglichkeiten bekommen.
Der Innovationsfonds soll erhalten bleiben, wobei die geförderten Projekte stärker in die Regelversorgung überführt werden sollen.
Für Patienten mit möglichen Behandlungsfehlern soll es einen Härtefallfonds geben. Die Unabhängige Patientenberatung (UPD) soll in eine „dauerhafte, staatsferne und unabhängige Struktur unter Beteiligung der maßgeblichen Patientenorganisationen“ überführt werden.
Drogenpolitik
„Wir führen die kontrollierte Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken in lizenzierten Geschäften ein“, so heißt es im Vertrag. Dieser Plan war früh aus den Koalitionsverhandlungen nach außen gedrungen. Die Koalition hofft so, eine Kontrolle über die Qualität und den Jugendschutz gewährleisten zu können. Das Gesetz soll nach vier Jahren evaluiert werden, um die gesellschaftlichen Auswirkungen zu prüfen.
Bei der Prävention von anderen Genussmitteln, beispielsweise Alkohol und Nikotin, soll auf Aufklärung bei Kindern, Jugendlichen und Schwangeren gesetzt werden. Dazu werden auch die Regeln für Marketing von Alkohol-, Nikotin- und Cannabis-Produkten verschärft. Modelle zum Drugchecking sollen ausgebaut werden.
Finanzierungsmaßnahmen
Unklar war lange, wie die Pläne der Ampel finanziert werden sollen. In dem ersten Entwurfspapier waren noch viele Bereiche offen. Nun heißt es, dass der Bundeszuschuss zur gesetzlichen Krankenversicherung „regelhaft dynamisiert“ werden soll.
„Wir finanzieren höhere Beiträge für die Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld II aus Steuermitteln.“ – Auszug aus dem Koalitionsvertrag
Das Preismoratorium bei Arzneimitteln soll beibehalten werden und das Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz (AMNOG) erhalten und weiterentwickelt werden. Ebenso sollen die Krankenkassen die Möglichkeiten erhalten, die Arzneimittelpreise zu begrenzen. „Der verhandelte Erstattungspreis gilt ab dem siebten Monat nach Markteintritt“ – bislang galt dies bis zu zwölf Monaten. © bee/aha/aerzteblatt.de

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