Ärzteschaft
„Die Ärzteschaft ist mehr als verärgert über das Krisenmanagement der Pandemie“
Samstag, 27. November 2021
Berlin – Die Coronalage in Deutschland spitzt sich zu. Die Zahl der Neuinfektionen steigt ebenso wie die Zahl der Menschen, die mit COVID-19 auf den Intensivstationen landen. Bund und Länder müssen nun alles tun, was kurzfristig Wirkung zeigt, sagt Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), dem Deutschen Ärzteblatt.
5 Fragen an Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer
DÄ: Was ist jetzt das Gebot der Stunde?
Klaus Reinhardt: Die Pandemielage ist ernst und in einigen Regionen sogar hochdramatisch. Die von Bund und Länder beschlossenen Maßnahmen müssen deshalb jetzt konsequent und zügig umgesetzt werden.
Debatten über weitere Maßnahmen, die irgendwann greifen, kosten nur unnötig Zeit – und im schlimmsten Fall Menschenleben. Ein Lockdown für alle kann nur das letzte Mittel sein.
Und auch eine Impflicht, so sinnvoll sie medizinisch sein kann, würde ja nicht kurzfristig greifen können. Denken Sie allein an die verfassungsrechtliche Diskussion. Aber wir müssen die vierte Welle jetzt brechen.
Wir sollten uns jetzt auf das konzentrieren, was kurzfristig machbar und wirksam ist, und das ist die konsequente Kontrolle der 2-G-Regel. Wer dagegen verstößt, für den müssen Bußgeldzahlungen in einer Höhe fällig werden, die ihn wirklich spürbar treffen. Und natürlich müssen wir die AHA-Regeln wieder in das kollektive Bewusstsein bringen. Diese Regeln scheinen sich über den Sommer verflüchtigt zu haben
DÄ: Ist die Bevölkerung nach dem Sommer auch zu schlecht informiert worden?
Reinhardt: Ja. Wir brauchen endlich eine wirksame Aufklärungskampagne für alle Teile der Bevölkerung, zum Beispiel vor den großen Nachrichtensendungen im Fernsehen oder in den sozialen Medien. Wir müssen mit fake news nachhaltig aufräumen und Informationen so verständlich aufbereiten, dass die Menschen den Nutzen der Impfungen für sich selbst und ihre Familie verstehen. Wie sonst sollen wir denn die Millionen Ungeimpften erreichen?! Etwa durch tägliche Pressekonferenzen? Ich bitte Sie, da dürfen wir uns doch nichts vormachen.
DÄ: Wie kann man die Impfkampagne forcieren?
Reinhardt: Wir müssen ganz pragmatisch überall dort impfen, wo es Ärzte gibt. Deshalb sollten wir auch die Krankenhäuser, so sie denn nicht völlig überlastet sind, in die Impfkampagne einbinden. Und auch die Ärztinnen und Ärzte des Medizinischen Dienstes sollten stärker einbezogen werden. Wir müssen all diese Ressourcen jetzt nutzen, um eine weitere Überlastung der Krankenhäuser zu verhindern. Die Inzidenzzahlen blinken hektisch tiefrot, uns rennt Zeit davon.
Die für das Impfen notwendige Infrastruktur ist ja eigentlich vorhanden. Wir müssen sie nur endlich nutzen. Bereits im Mai hatten wir darauf hingewiesen, dass zum Jahresende hin die Infektionszahlen steigen werden und wir dann ein geordnetes Verfahren für die Erst- und Zweitimpfungen sowie für die dann notwendigen Boosterimpfungen brauchen.
Vor lauter Wahlkampfgetöse haben die politisch Verantwortlichen unsere Warnrufe offensichtlich überhört. Die Länder hätten zur Entlastung der Arztpraxen in der Grippesaison wenigstens eine Grundstruktur der Impfzentren offenhalten sollen, statt sie jetzt hektisch wieder in Betrieb setzen zu müssen. Wir zahlen für die Untätigkeit im Sommer jetzt einen sehr hohen Preis.
DÄ: Sind Apotheken auch geeignete Impfstationen?
Reinhardt: Dass Apotheken oder andere Einrichtungen plötzlich impfen sollen, ist nicht nachvollziehbar. Impfen ist nicht einfach nur ein Piks. Treten etwa allergische Reaktion nach der Impfung auf, muss ein Arzt einschreiten können. Solche Diskussionen führen nur zu weiterer Verunsicherung. Ich finde das verantwortungslos.
Bund und Länder müssen die geeigneten Rahmenbedingungen für eine sichere, unbürokratische und barrierearme Impfkampagne in Deutschland schaffen. Überhaupt nicht hilfreich ist das Chaos, das die Politik veranstaltet: Erst die Biontech-Kappung, dann die bürokratische Testpflicht für Praxispersonal, das ja in der Regel durchgeimpft ist, und nun auch noch die Ankündigung seitens des Bundesgesundheitsministeriums, dass es regional zu Kürzungen bei der Bestellmenge des Moderna-Impfstoffes kommen kann. Das können die Ärztinnen und Ärzte, die ja nun wirklich an vorderster Coronafront kämpfen, beim besten Willen nicht mehr verstehen.
DÄ: Was muss sich beim Pandemiemanagement jetzt ändern?
Reinhardt: Die Ärzteschaft ist mehr als nur verärgert über ein solch schlechtes Krisenmanagement. Der Frustpegel ist ganz bedenklich gestiegen. Pandemiemanagement und Krisenreaktionsfähigkeit müssen dringend optimiert werden. Daher begrüßen wir ausdrücklich die Einrichtung eines Coronakrisenstabs, den die Ampel-Koalition vorgeschlagen hat. Wir hatten seit langem einen breit aufgestellten Pandemierat gefordert, der kontinuierlich tagt und mit Ärzten verschiedener Fachrichtungen, Juristen, Ethikern, Soziologen und Pädagogen besetzt ist. Dieses Gremium könnte schnelle und vor allem gute Entscheidungen für die Politik vorbereiten und die Akzeptanz der Bevölkerung für Coronamaßnahmen stärken. © mis/aerzteblatt.de

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