Politik
Leopoldina regt gesellschaftliche Diskussion über Erforschung menschlicher Embryonen an
Dienstag, 11. Januar 2022
Berlin/Halle – Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina plädiert dafür, Embryonenforschung in engen Grenzen für hochrangige Forschungsziele künftig zu ermöglichen und möchte den dafür erforderlichen Rechtsrahmen gesellschaftlich neu diskutieren.
Insbesondere sollte nach Ansicht der Forschungsorganisation Paaren künftig die Spende von Embryonen, die im Rahmen einer fortpflanzungsmedizinischen Behandlung entstanden sind, für die Forschung erlaubt werden. Bislang dürfen diese sogenannten überzähligen Embryonen nur für andere Paare mit Kinderwunsch gespendet werden – oder müssen verworfen werden.
Wie sehr diese Forderung verschiedene ethisch-moralische Positionen und Ansichten über die Schutzwürdigkeit von menschlichen Embryonen tangiert, zeigte sich gestern bei der virtuellen Podiumsdiskussion der Leopoldina zur Forschung an menschlichen Embryonen und mit embryonalen Stammzellen in Deutschland.
Letztlich blieb bei der Expertendiskussion umstritten, welcher Schutz frühen Embryonen gewährt werden sollte. Beim Austausch der Argumente stand die Güterabwägung der Schutzwürdigkeit von Embryonen und der Forschungsfreiheit im Vordergrund.
Viele wissenschaftliche Fragen zur Embryonalentwicklung, Krankheitsentstehung, Fortpflanzungsmedizin oder Anwendungen von embryonalen Stammzellen für regenerative und personalisierte Therapien ließen sich nur durch Forschung mit frühen menschlichen Embryonen beantworten, betonte der Biochemiker und Stammzellforscher Jürgen Knoblich vom Institut für molekulare Biotechnologie in Wien und Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
Zu ihrer Aufklärung dürften in Deutschland tätige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aktuell nur wenig beitragen, weil die Forschung mit frühen menschlichen Embryonen durch das Embryonenschutzgesetz (ESchG) von 1990 verboten sei. „Wir brauchen aber die Forschung an menschlichen Embryonen, um die embryonale Entwicklung richtig zu verstehen.“
Nach seiner Ansicht sollte deshalb diese Forschung für hochrangige Forschungsziele künftig auch in Deutschland ermöglicht werden. Knoblich verwies auf die Vielzahl von Embryonen, die im Rahmen fortpflanzungsmedizinischer Behandlungen (In-Vitro-Fertilisation, IVF) entstehen und für diese nicht mehr verwendet werden, weil die Familienplanung abgeschlossen ist.
Tatsächlich lässt sich aus dem IVF-Register erkennen, dass allein im Jahr 2019 in Deutschland rund 20.000 Embryonen kryokonserviert, aber nur knapp 10.000 Embryonen aufgetaut und zur Herbeiführung einer Schwangerschaft übertragen wurden.
Schätzungen zufolge liegen in Deutschland derzeit etwa 50.000 überzählige Embryonen auf Eis. Sie können bislang nur für andere Paare mit Kinderwunsch gespendet werden. Da dies jedoch nur in den wenigsten Fällen erfolgt, bleiben die Embryonen auf nicht absehbare Zeit eingefroren oder müssen verworfen werden. Eine dritte Option, nämlich Embryonen für hochrangige Forschungsziele zur Verfügung zu stellen, besteht für Paare derzeit nicht.
Diese fehlende Möglichkeit kritisieren die Leopoldina und die Union der deutschen Akademien der Wissenschaften in ihrer gemeinsamen Stellungnahme „Neubewertung des Schutzes von In-vitro-Embryonen in Deutschland“ von 2021.
Sie fordern, Embryonenforschung für hochrangige Forschungsziele im Einklang mit internationalen ethischen Standards künftig zu ermöglichen und den Paaren die Entscheidungshoheit darüber zu geben, ob überzählige Embryonen für die Forschung zur Verfügung gestellt werden. Mithilfe einer unabhängigen Beratung im Vorfeld könnten Betroffene informierte Entscheidungen treffen, meinen die Wissenschaftsorganisationen.
Thematisiert wurde bei der Podiumsdiskussion zudem eine in Deutschland herrschende „Doppelmoral“: Bisher müssen deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die mit humanen embryonalen Stammzellen arbeiten möchten, diese unter strengen Auflagen importieren. Von den Fortschritten, die in anderen Ländern durch Forschung in diesem Bereich erzielt werden, profitiere Deutschland aber durchaus „als Trittbrettfahrer“, etwa bei der In-vitro-Fertilisation oder der Präimplantationsdiagnostik, argumentierte Horst Dreier, Leopoldina-Mitglied und Rechtsphilosoph der Universität Würzburg.
Eine Neuregelung mit einem entsprechenden Rechtsrahmen würde in Deutschland tätigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Möglichkeit geben, mehr zu dieser Forschung und ihren Standards beizutragen. Eindeutig Position bezog Dreier insbesondere bezüglich einer Neubewertung des Embryonenschutzes. „Eine Blastozyste ist noch kein unteilbares Leben und damit kein Individuum“, erklärte er. Als artspezifisches, aber noch nicht individuelles Leben könne ihr in den Tagen vor der Nidation daher noch keine Menschenwürde zukommen, die es zu schützen gelte.
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Die katholische Moraltheologin Kerstin Schlögl-Flierl von der Universität Augsburg, Mitglied im Deutschen Ethikrat, möchte dagegen menschliches Leben von Beginn an, konkret der Verschmelzung von Ei-und Samenzelle, geschützt wissen. Nach ihrer Auffassung verfügt bereits der frühe menschliche Embryo über die Menschenwürde und ein Lebensrecht wie der geborene Mensch.
„Die Schutzwürdigkeit der Embryonen steht vor der Forschungsfreiheit“, erklärte Schlögl-Flierl. Mit Blick auf verwaiste menschliche Embryonen sagte sie, man müsse alles tun, um dem ursprünglichen Grund ihrer Herstellung – nämlich der Fortpflanzung – gerecht zu werden. Die Anstrengungen für die Adoption sollten verstärkt werden. „Und im Forschungsbereich sollten alle Alternativen ausgeschöpft werden.“
„Embryonen dürfen nicht als Forschungsobjekte wahrgenommen werden“, betonte bei der Podiumsdiskussion auch der ehemalige Bischof der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, Martin Hein. Obwohl er die in Deutschland vorherrschende „Doppelmoral“ durch die Nutzung von Forschungsergebnissen aus dem Ausland kritisiert, steht auch er einer Forschung an überzähligen Embryonen sehr restriktiv gegenüber. „Ich sehe eine ‚slipery slope‘“, sagte er. Maximale Verbote aufzustellen, sei jedoch auch schwierig. „Die Embryoadoption muss forciert werden. Zudem muss der Umgang mit den verbleibenden überzähligen Embryonen geklärt werden. Wir brauchen Verfahrensregeln.“
International existieren keine verbindlichen Abkommen über die Forschung mit humanen Embryonen. In einigen Ländern ist diese in engen Grenzen erlaubt. Meist darf bis zu 14 Tage nach der Befruchtung an Embryonen außerhalb des menschlichen Körpers geforscht werden.
Die Frist von 14 Tagen als Grenzlinie für die In-vitro-Forschung an Embryonen geht auf die bioethischen Empfehlungen des Warnock-Reports von 1984 zurück. Da es vor der Einnistung in der Gebärmutter auch bei natürlicher Befruchtung zu einem häufigen Absterben früher Embryonen kommt und da dieser der Zeitpunkt den eigentlichen Beginn der Schwangerschaft ausmacht, fand der Vorschlag in vielen Ländern Akzeptanz.
In Deutschland verbietet hingegen das 1990 verabschiedete Embryonenschutzgesetz die Forschung mit frühen menschlichen Embryonen außerhalb des Körpers. Es untersagt auch die Gewinnung von Stammzellen aus menschlichen Embryonen. Das deutsche Stammzellgesetz hingegen erlaubt – unter bestimmten Voraussetzungen – den Import von im Ausland erzeugten embryonalen Stammzellen und deren Verwendung für hochrangige Forschungsziele. © ER/aerzteblatt.de

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