Medizin
Multiple Sklerose: Studie sieht Epstein-Barr-Virus als Auslöser
Freitag, 14. Januar 2022
Boston – Eine Untersuchung an US-Soldaten bestätigt die lange gehegte Vermutung, dass das Epstein-Barr-Virus ein Auslöser der Multiplen Sklerose ist. Die Forscher zeigen in Science (2022; DOI: 10.1126/science.abj8222), dass Soldaten, die sich während ihrer Dienstzeit mit dem Herpesvirus infizierten, in den Folgejahren 32-fach häufiger an einer Multiplen Sklerose erkrankten als Nicht-Infizierte.
Nach der Infektion kam es zu einem Anstieg des Biomarkers „neurofilament light chain“ im Blut, der auf eine Schädigung der Axone im Zentralnervensystem hinweist.
Die Ursache der meisten Autoimmunerkrankungen ist nicht bekannt. Eine Vermutung geht dahin, dass eine Virusinfektion das Immunsystem zu einer Reaktion veranlasst, die sich nicht nur gegen den Erreger richtet, sondern versehentlich auch den eigenen Körper angreift. Der Grund könnte eine Ähnlichkeit von Virusbestandteilen mit körpereigenen Strukturen etwa auf der Oberfläche von Zellen sein, was als „molecular mimicry“ bezeichnet wird.
Das Epstein-Barr-Virus (EBV) gehört seit langem zu den verdächtigen Erregern. So erhöht eine frühere Mononukleose (Pfeiffersches Drüsenfieber), die EBV-Primärinfektion, das Risiko, später an einer Multiplen Sklerose zu erkranken. Als Herpesvirus kann EBV seine Gene in den Zellen ablegen und zu einem späteren Zeitpunkt reaktiviert werden. Patienten mit Multipler Sklerose haben häufig hohe Antikörpertiter gegen EBV, und einige dieser Antikörper zeigten in Untersuchungen eine Kreuzreaktion mit Strukturen auf der Oberfläche von Axonen, etwa dem „Chloridkanalprotein Anoctamin 2“. Einige Forscher meinen sogar, EBV in den Läsionen der Multiplen Sklerose entdeckt zu haben, was jedoch umstritten ist.
Ein endgültiger Beweis für EBV als Verursacher steht noch aus. Er ist schwer zu führen, da etwa 95 % aller Menschen sich in ihrer Jugend mit EBV infizieren, von denen die wenigsten später an einer Multiplen Sklerose erkranken. Ein wichtiges Glied in der Beweiskette wäre der Nachweis, dass auf eine Infektion mit EBV eine Erkrankung an einer Multiplen Sklerose folgt. Dies ist jetzt einem Team um Alberto Ascherio von der T.H Chan School of Public Health in Boston gelungen.
Die Forscher identifizierten unter mehr als 10 Millionen US-Soldaten 955 Neuerkrankungen, die während der aktiven Laufbahn aufgetreten waren. Bei 801 Fällen lagen mehrere Blutproben vor, in denen die Forscher nach Antikörpern gegen EBV suchen konnten. Bis auf 1 waren alle EBV-positiv. Interessant ist nun, dass 35 Patienten mit Multipler Sklerose bei der Musterung noch EBV-negativ waren. Bis auf 1 infizierten sich alle während ihrer Dienstzeit, und zwar vor der Diagnose der Multiplen Sklerose. Im Vergleich zu den Soldaten, die über die gesamte Armeezeit EBV-negativ blieben, war das Erkrankungsrisiko um den Faktor 32,4 erhöht (allerdings bei einem weiten 95-%-Konfidenzintervall von 4,3 bis 245,3).
Von der Serokonversion bis zur Erkrankung vergingen median 7,5 Jahre (Bereich 2 bis 15 Jahre). Dies entspricht in etwa der vermuteten Latenzzeit bei der Multiplen Sklerose. Sie gründet sich auf den Nachweis der „neurofilament light chain“, der Jahre vor den 1. Symptomen möglich ist.
Das Protein ist ein Bestandteil von Axonen. Es wird bei einer Beschädigung freigesetzt und wird dann in den Liquor und auch ins Blut ausgeschwemmt. Bei den Soldaten, die später an einer Multiplen Sklerose erkrankten, war „neurofilament light chain“ ebenfalls nachweisbar, allerdings immer erst nach der Infektion mit EBV.
zum Thema
- Abstract der Studie in Science
- Pressemitteilung der T.H. Chan School of Public Health
- Studie in JCI Insight
aerzteblatt.de
Anders als mit EBV konnte keine Assoziation mit dem Zytomegalievirus nachgewiesen werden (Die Infizierten erkrankten sogar etwas seltener, was an der allgemeinen Aktivierung des Immunsystems bei der Multiplen Sklerose liegen könnte). Auch ein Test mit dem VirScan, der die Antikörperreaktion auf etwa 110.000 verschiedene Peptide von etwa 200 Viren im Körper misst, fiel negativ aus. Wenn ein Virus der Auslöser der Multiplen Sklerose ist, dann kommt nach Ansicht von Ascherio nur EBV infrage.
Ungeklärt bleibt, warum nur die wenigsten Menschen, die sich mit EBV infizieren, später an einer Multiplen Sklerose erkranken. Wenn EBV die Ursache ist, dann könnte eine Impfung davor schützen. Einen solchen Impfstoff gibt es derzeit nicht. Der Hersteller GlaxoSmithKline war vor Jahren mit einem Projekt gescheitert. Derzeit werden dem Vernehmen nach neue Kandidaten am US-National Institute of Allergy and Infectious Diseases (NIAID) und von der Firma Moderna entwickelt.
Ein anderer Ansatz könnte eine T-Zell-Therapie sein, die die EBV-infizierten Zellen angreift und möglicherweise auch nach dem Beginn der Erkrankung wirksam sein könnte.
Mediziner aus Australien haben in einer Phase-1-Studie 10 Patienten behandelt. Nach den in JCI Insight (2018; DOI: 10.1172/jci.insight.124714) publizierten Ergebnissen haben 7 Patienten auf die Behandlung angesprochen. Bei dem wechselhaften Verlauf der Erkrankung lassen sich allerdings aus einer kleineren Studie ohne Vergleichsgruppe keine weiterreichenden Schlüsse ziehen. © rme/aerzteblatt.de
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