Vermischtes
Sexueller Kindesmissbrauch: Schwere Vorwürfe gegen katholische Kirche
Freitag, 21. Januar 2022
München – Ein Gutachten im Auftrag des Erzbistums München und Freising lastet dem emeritierten Papst Benedikt XVI. in vier Fällen Fehlverhalten im Umgang mit sexuellem Missbrauch während seiner Zeit als Erzbischof des Bistums München und Freising (1977 – 1982) an.
Das sagte der Jurist Martin Pusch von der mit dem Gutachten beauftragten Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl gestern bei einer Pressekonferenz in München. In allen Fällen habe Benedikt, damals Kardinal Joseph Ratzinger, ein Fehlverhalten strikt zurückgewiesen.
In ihrem Gutachten hat die Anwaltskanzlei im Zeitraum von 1945 bis 2019 insgesamt 363 Tatvorwürfe untersucht. „Bei 211 Sachverhalten sehen wir den Tatvorwurf als erwiesen oder zumindest plausibel an“, sagte Pusch.
Auch dem früheren Erzbischof von München und Freising, Kardinal Friedrich Wetter, wirft das Gutachten in 21 Fällen Fehlverhalten im Umgang mit sexuellem Missbrauch vor. Wetter habe die Fälle zwar nicht bestritten, so Pusch, ein Fehlverhalten seinerseits aber schon.
Weiter wird dem Münchner Erzbischof Kardinal Reinhard Marx Fehlverhalten im Umgang mit zwei Verdachtsfällen von sexuellem Missbrauch vorgeworfen. Es gehe dabei um Meldungen an die Glaubenskongregation in Rom.
Darüber hinaus gibt es laut dem Gutachten mindestens 235 weitere mutmaßliche Täter der Erzdiözese, darunter 173 Priester und neun Diakone. Viele Geistliche seien auch nach Bekanntwerden von Missbrauchsvorwürfen weiter eingesetzt worden.
Betroffen waren überwiegend Jungen zwischen 8 und 14 Jahren
Die Gutachter gehen von mindestens 497 Betroffenen sexuellen Missbrauchs aus, davon 247 Jungen und 182 Mädchen; in 68 Fällen war eine eindeutige Zuordnung nicht möglich. Deutlich überrepräsentiert war dabei die Altersgruppe der 8- bis 14-Jährigen (59 Prozent der Jungen, 32 Prozent der Mädchen).
Die Reaktionen gegenüber Klerikern, die des sexuellen Missbrauchs verdächtigt wurden, blieben vor 2010 nach Auffassung der Gutachter hintern dem nach kirchlichem Recht Gebotenen weit zurück.
Nachdem in den 1950er-Jahren noch vereinzelt disziplinarische Maßnahmen erfolgten, war „der Umgang mit den Klerikern anschließend von Milde und Nachsicht und der Motivation geprägt, keine größere öffentliche Wahrnehmung der Missbrauchsthematik zu erzeugen“, heißt es in dem Gutachten.
Sogar strafrechtlich verurteilte Priester wurden weiter in der Seelsorge belassen, teilweise sogar ohne jede Beschränkung in der regulären Gemeindearbeit. Im Vergleich dazu konnten die Gutachter feststellen, dass gegenüber des Missbrauchs verdächtigten Laienmitarbeitern durchgängig angemessene dienst- und arbeitsrechtliche Maßnahmen ergriffen wurden.
Der Umgang mit den Betroffenen habe sich seit 2010 – dem Jahr des spektakulären Bekanntwerdens der Missbrauchsfälle am von Jesuiten geführten Berliner Canisius-Kolleg – zwar verändert. Eine „seelsorgerische Zuwendung zu den Betroffenen und ihren Nöten und Belangen fand jedoch nicht statt“, schreiben die Gutachter. Und das, obwohl die negativen Folgen eines sexuellen Missbrauchs bereits weit vor 2010 auch kirchlicherseits bekannt gewesen seien.
Systemisch bedingte Angst und Hilflosigkeit im Umgang mit Skandalen
Den verfehlten Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs haben nach Auffassung der Gutachter verschiedene systemische Defizite begünstigt, oder erst sogar ermöglicht. Sie benennen dabei den Klerikalismus, eng verbunden mit einer „systemisch bedingten Angst und Hilflosigkeit im Umgang mit Skandalen“. Dies habe zu einem „paranoiden Verhalten“ im Hinblick auf die eigentlich gebotene Transparenz geführt.
Hinzu kommen laut dem Gutachten grundlegende Mängel des kirchlichen Strafrechts, die damit verbundene unzureichende innerkirchliche Rechtskultur sowie Defizite hinsichtlich der Sachkompetenz bei der Besetzung diözesaner Führungsebenen.
Die Gutachter sehen zwar seit 2010 eine verbesserte Präventionsarbeit der Erzdiözese. Kirchliche Leitungsverantwortliche hätten aber nicht zuletzt auch in ihrer Funktion als Seelsorger mit Betroffenen in Kontakt treten müssen, wenn diese das wollten. Sie halten es des Weiteren für erforderlich, dass eine unabhängige Ombudsstelle für die Betroffenen eingerichtet wird, die diese bei der Wahrnehmung ihrer Anliegen unterstützt.
Die derzeit bestehenden Strukturen, insbesondere die Missbrauchsbeauftragten, würden oftmals nicht als unabhängig wahrgenommen werden. Damit einher gehe auch die Stärkung des Betroffenenbeirats, dem die für ein effektives Handeln notwendigen Mittel und Strukturen zur Verfügung gestellt werden müssen, fordern die Gutachter. © PB/aerzteblatt.de

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