Medizin
COVID-19: Inzidenz des Typ-1-Diabetes steigt 3 Monate nach einer Erkrankungswelle an
Freitag, 21. Januar 2022
Giessen – Der Anstieg von Neuerkrankungen am Typ-1-Diabetes bei Kindern hat sich in Deutschland auch im 2. Jahr der Pandemie fortgesetzt. Eine Auswertung der Diabetes-Patienten-Verlaufsdokumentation (DPV) in Diabetes Care (2022; DOI: 10.2337/dc21-0969) ergab, dass es jeweils 3 Monate nach einer Coronawelle zu einem Anstieg der Inzidenz kommt.
Schon vor der Pandemie war die Zahl der pädiatrischen Neuerkrankungen am Typ-1-Diabetes gestiegen. Die DPV, die über 90 % aller pädiatrischen Erkrankungen in Deutschland erfasst, ermittelte für den Zeitraum von 2011 bis 2019 eine konstante Zunahme um 2,4 % pro Jahr, ohne dass die Gründe dafür bekannt sind.
Dieser Anstieg hat sich seit dem Beginn der Pandemie beschleunigt. In den ersten 18 Monaten wurden 5.162 Neuerkrankungen bei Kindern und Jugendlichen registriert, was einer Inzidenz von 24,4 pro 100.000 Patientenjahre entspricht. Anhand der Trendanalyse für die Jahre 2011 bis 2019 wäre eine Inzidenz von 21,2 zu erwarten gewesen.
Privatdozent Clemens Kamrath von der Universität Gießen und Mitarbeiter ermitteln einen um 15 % stärkeren Anstieg während der Pandemie. Die relative Inzidenzrate (rIR) von 1,15 war mit einem 95-%-Konfidenzintervall von 1,10 bis 1,20 signifikant.
Besonders stark betroffen waren Kleinkinder im Alter von unter 6 Jahren, bei denen die Inzidenz im Gesamtzeitraum zusätzlich um 23 % (rIR 1,23; 1,13-1,33) und im ersten Halbjahr 2021 sogar um 34 % anstieg (rIR 1,34; 1,17-1,54).
Eine monatsspezifische Analyse ergab einen zeitlichen Zusammenhang mit den ersten drei Wellen der Pandemie: Jeweils etwa 3 Monate nach den Höhepunkten der Erkrankungen zeigte sich ein besonders starker Anstieg der Inzidenz: Zwischen Juni und September 2020 betrug die rIR 1,27 (1,13-1,43).
Zwischen Oktober 2020 und Februar 2021 flachte die Zunahme wieder ab (rIR 1,05; 0,95-1,16). Etwa 3 Monate nach der Winterwelle stieg die rIR zwischen März und Juni 2021 wieder auf 1,27 (1,13-1,42).
Die Ursache für den Anstieg ist unklar. Viren werden seit längerem als mögliche Trigger für Autoimmunerkrankungen diskutiert. Da viele Kinder jedoch schon Jahre vor dem Ausbruch der Erkrankung Autoantikörper im Blut haben, gingen Diabetologen bisher von einer längeren Latenzzeit aus.
Der Abstand von nur 3 Monaten bis zum Anstieg ist deshalb für Kamrath überraschend. Eine andere Erklärung wäre ein direkter Angriff von SARS-CoV-2 auf die Beta-Zellen. Gegen diese Annahme spricht, dass die meisten Kinder bei der Diagnose Autoantikörper haben. Bei einer direkten infektiösen Genese sollte der Anteil der Autoantikörper-negativen Fälle ansteigen, was jedoch nicht der Fall war.
Da dem DPV-Team keine validen Daten zu COVID-19-Infektionen bei den betroffenen Kindern vorlagen, konnten sie die Rolle von SARS-CoV-2 nicht näher untersuchen. Finnische Forscher haben ebenfalls einen Anstieg von Neuerkrankungen beobachtet. Helm Salmi von der Universitätsklinik in Helsinki und Mitarbeiter konnten Blutproben von 33 der 84 Kinder testen. Alle waren Antikörper-negativ (Archives of Diseases in Childhood 2022; 107: 180-185).
Kamrath hält deshalb auch indirekte Auswirkungen der Pandemie für möglich. Die Maßnahmen gegen die Ausbreitung von SARS-CoV-2 (Lockdown, soziale Distanz) könnten dazu geführt haben, dass die Kinder in den ersten Lebensjahren seltener an Infektionen erkrankten, die sie nach der Hygiene-Hypothese vor Autoimmunerkrankungen wie dem Typ-1-Diabetes schützen.
Auch der erhöhte psychologische Stress während der Pandemie könnte das Erkrankungsrisiko erhöht haben. Auch hierfür gebe es Hinweise aus früheren epidemiologischen Studien. Auch dies ist jedoch eine Spekulation. Was am Ende für den Anstieg verantwortlich ist, bleibt derzeit im Dunkeln. © rme/aerzteblatt.de

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