Politik
Neuer Vorschlag für Reform der Notfallversorgung
Freitag, 28. Januar 2022
Berlin – Eine Gruppe von Experten aus dem deutschen Gesundheitswesen hat einen Vorschlag für eine Neuordnung der Notfallversorgung vorgelegt, in dem die Differenzen ausgeräumt wurden, an denen die Reform der Notfallversorgung in der vergangenen Legislaturperiode gescheitert ist.
An dem Positionspapier haben auf Einladung der Bertelsmann Stiftung Vertreter des stationären und des ambulanten Bereichs ebenso teilgenommen wie der Bundes- und der Landespolitik, der Krankenkassen und der Wissenschaft – jeweils als Privatpersonen. Sie alle präsentierten nun gemeinsam einen Vorschlag, wie die Notfallversorgung in Deutschland künftig ausgestaltet sein könnte.
Die Experten schlagen vor, dass die Ersteinschätzung eines Notfallpatienten künftig anhand eines standardisierten, digitalen Systems erfolgt – entweder während eines Telefonats oder am Tresen in der Notaufnahme eines Krankenhauses. Die Ersteinschätzung soll in der Verantwortung der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) liegen.
„Bei allen beteiligten Experten besteht ein Konsens zu dem Primat der ambulanten Versorgung“, erklärte der stellvertretende Vorstandsvorsitzende der KV Hessen, Eckhard Starke, heute bei der Präsentation des Positionspapiers.
„Wer ambulant behandelt werden kann, soll auch ambulant behandelt werden.“ Die Letztverantwortlichkeit für die Entscheidung, wie ein Notfallpatient weiterbehandelt werde, liege also bei den KVen. Bei Unsicherheiten über den Behandlungspfad sollen die Patienten allerdings sicherheitshalber in der Klinik bleiben.
Gegenseitige Wertschätzung
Bislang scheiterten die Bemühungen um eine Reform der Notfallversorgung unter anderem daran, dass die Krankenhäuser eine Ersteinschätzung im Krankenhaus ablehnten, die in der Verantwortung der KV liegt.
Heute erklärte der Vorstandsvorsitzende der Sana Kliniken AG und Vizepräsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Thomas Lemke: „Wir haben doch auch heute schon eine faktische Zuweisung der Patienten aus dem ambulanten Bereich ins Krankenhaus. Die Zuweisungskompetenz liegt also bei den KVen. Das bleibt auch bei unserem Vorschlag so.“
Er warb dafür, die Diskussion um die Reform der Notfallversorgung zu entideologisieren und betonte die Kooperation zwischen Klinikärzten und Vertragsärzten, die es heute auch schon in vielen Notaufnahmen mit angeschlossener Portalpraxis gebe. „Natürlich kommt der tatsächliche Notfall, der mit dem Rettungsdienst ins Krankenhaus kommt, direkt ins Krankenhaus und nicht erst in die Ersteinschätzung“, so Lemke. „Das bleibt in der Hoheit der Kliniken.“
Lemke betonte, dass die bislang stattfindende Dopplung von Ressourcen bei einer Umsetzung des Vorschlags nicht mehr notwendig sei. „Ohnehin werden wir an Begrenzungen der Ressourcen stoßen, personell und finanziell. Ein ‚Weiter so‘ wird es faktisch nicht gehen. Deshalb brauchen wir andere Strukturen, die uns in die Zukunft tragen“, sagte er.
Lemke lobte den Weg, auf dem die Konsentierung des gemeinsamen Positionspapiers gelungen sei. „Experten aus allen Bereichen des Gesundheitswesens sind mit gegenseitiger Wertschätzung in den Austausch gekommen“, sagte er. „So konnte auf die ganze Kriegsrhetorik auf der Bühne, die uns sonst nur behindert und die Politik verunsichert, verzichtet werden. Unser Papier schreibt eine Kultur des gemeinsamen Handelns fest.“
Gemeinsame digitale Plattform
Zu den Ideen der Experten zählt auch eine digitale Plattform, auf die alle Akteure im Bereich der Notfallversorgung zurückgreifen können. Wurden die Daten eines Notfallpatienten bei der telefonischen Ersteinschätzung aufgenommen, liegen sie insofern auch in der Notaufnahme vor, an die der Patient gegebenenfalls verwiesen wird.
Die Experten schlagen vor, dass die Bundesregierung ein neues Gremium ernennt, dass die notwendigen Systemvoraussetzungen und Schnittstellendefinitionen vornimmt, die für eine solche Plattform notwendig sind.
Die telefonische Ersteinschätzung soll in jedem Fall sowohl über die 112 als auch über 116117 erreichbar sein. Dabei sollen direkt Vertragsärztinnen und -ärzte per Videokonsultation dazu geschaltet werden können, um die Disponenten am Telefon bei ihrer Einschätzung zu unterstützen.
Mehr Pflegenotfall- und Palliativteams
Das Ziel der Überlegungen der Reform müsse es sein, eine bedarfsgerechte Patientensteuerung zu ermöglichen, bei der die Notfallpatienten die Versorgung erhalten, die sie benötigen, sagte der Vorsitzende des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR), Ferdinand Gerlach. 2018 hatte der SVR ein Gutachten zur Reform der Notfallversorgung vorgelegt, in dem viele der heute vorgestellten Ideen bereits angedacht waren.
Vor diesem Hintergrund meinte der frühere Staatsrat der Stadt Hamburg, Matthias Gruhl: „Heute kommt es leider immer noch viel zu oft vor, dass alte Patienten ins Krankenhaus transportiert werden, weil sie in ihrer letzten Phase zu Hause nicht mehr versorgt werden können.“ Künftig sollen dem Vorschlag zufolge vermehrt Pflegenotfall- und Palliativteams gebildet werden, um die Patienten in solchen Notfällen zu versorgen und einen Krankenhausaufenthalt zu vermeiden.
Unklar ist, inwieweit die Patienten eine solche Steuerung in Notfallsituationen annehmen würden. Denn es könnte den Patienten, die sich direkt in die Notaufnahmen begeben, passieren, dass sie nach einer Ersteinschätzung im Krankenhaus in eine Facharztpraxis weitergeleitet werden. Dort sollen sie dann allerdings direkt einen Termin erhalten. Fachärzte sollen dafür künftig Notfallslots bereithalten.
„In anderen Ländern funktioniert es durch die Betonung der positiven Effekte, die Menschen für eine solche Steuerung zu motivieren“, erklärte Gerlach. „Sie müssen immerhin nicht mehr stundenlang in der Notaufnahme warten.
Man könnte aber auch darüber nachdenken, ob man nicht auch eine gezielte Selbstbeteiligung einführt, wenn die Menschen künftig in die Notaufnahme kommen, ohne vorher bei der telefonischen Ersteinschätzung angerufen zu haben.“ Diese Idee sei allerdings nicht in dem Positionspapier konsentiert. © fos/aerzteblatt.de

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