Politik
„Es geht darum, dass sich eine PTBS gar nicht erst herausbildet“
Dienstag, 29. März 2022
Berlin – Hunderttausende Geflüchtete aus der Ukraine sind bereits in Deutschland angekommen. Mehr werden folgen. Bei vielen dieser Menschen wird der Krieg Spuren hinterlassen, möglicherweise sogar in Form von Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS). In Deutschland könnten auch ältere Menschen, die bereits einen Krieg miterlebt haben, das Risiko einer Retraumatisierung haben, wenn sie die Bilder der Kriegshandlungen sehen.
Klaus-Peter Seidler leitet die Traumasprechstunde an der Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie an der Medizinische Hochschule Hannover (MHH) und kennt sich mit der Versorgung betroffener Patienten aus. Das Deutsche Ärzteblatt (DÄ) sprach mit ihm.
5 Fragen an Klaus-Peter Seidler, Leiter der Traumasprechstunde der MHH
DÄ: Haben Sie in der Traumasprechstunde bereits Geflüchtete aus der Ukraine behandelt? Wer kommt normalerweise in die Sprechstunde und wie ist das Behandlungskonzept?
Klaus-Peter Seidler: Nein, bei uns haben sich bislang keine Geflüchtete aus der Ukraine vorgestellt. Die Traumasprechstunde wird von Patientinnen und Patienten mit einer traumatischen Lebenserfahrung aufgesucht.
Meist handelt es sich dabei um stark belastende Erfahrungen in der Kindheit, wie sexueller Missbrauch, körperliche Gewalt, starker Entwertungen und Ablehnung in der Familie. Manchmal werden aber auch Erfahrungen von Unfall oder Tod eines Angehörigen oder über eine starke Belastung aufgrund eines Ereignisses am Arbeitsplatz berichtet.
Neben einer eingehenden psychologischen Diagnostik werden in der Traumasprechstunde auch die Möglichkeiten einer spezialisierten Therapie erörtert und therapeutische Empfehlungen ausgesprochen.
Gegebenenfalls erfolgt auch eine Weitervermittlung an die stationären und ambulanten Behandlungsmöglichkeiten innerhalb der MHH, wie den Psychotherapiestationen der psychiatrischen und psychosomatischen Abteilung oder der Ambulanz der psychotherapeutischen Ausbildungsinstitute.
DÄ: Woran erkennt man, ob jemand an PTBS leidet und Hilfebedarf hat?
Seidler: Anzeichen einer PTBS sind, wenn Personen unter wiederkehrenden Erinnerungen an ein Trauma leiden. Es wird über ein sich aufdrängendes intensives Wiedererleben in Form von Bildern, filmartigen Szenen oder Albträumen berichtet. Oft sind zudem Symptome einer erhöhten psychischen Sensitivität und Erregung zu verzeichnen, zum Beispiel Schlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten, eine erhöhte Schreckhaftigkeit und Reizbarkeit.
Oder es zeigt sich vielmehr eine Betäubung der allgemeinen Empfindlichkeit, etwa in Form eines Gefühls emotionaler Betäubung und von Gleichgültigkeit sowie Teilnahmslosigkeit anderen Menschen gegenüber. Zudem besteht ein Vermeidungsverhalten hinsichtlich solcher Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten.
DÄ: Kann eine frühzeitige psychosoziale Beratung von Geflüchteten, in Zeitnähe der Ankunft in Deutschland, einer PTBS vorbeugen?
Seidler: Ja, eine solche psychosoziale Beratung ist sehr wichtig. Es geht darum, den Geflüchteten, Sicherheit, Orientierung und soziale Unterstützung zu vermitteln, sodass sich eine posttraumatische Belastungsstörung erst gar nicht herausbildet. Hierzu gehören beispielsweise Vermittlung von Methoden zur psychischen Stabilisierung, Psychoedukation zu Symptomen einer akuten Belastungsreaktion, Hilfe bei der Tagesstrukturierung, Ressourcenaktivierung sowie die Unterstützung in der Bewältigung alltäglicher Anforderungen wie Behördengänge.
aerzteblatt.de
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DÄ: Viele ältere Menschen haben selbst noch einen Krieg erlebt. Was macht der Krieg gegen die Ukraine mit ihnen? Besteht die Gefahr einer Retraumatisierung?
Seidler: Ja, eine Retraumatisierung kann, aber muss nicht erfolgen. Dies dürfte vor allem damit zusammenhängen, in welchem Ausmaß eigene kriegstraumatische Erfahrungen vorliegen und inwieweit diese in der Vergangenheit bereits verarbeitet und bewältigt werden konnten.
Unabhängig davon lässt sich davon ausgehen, dass sich viele Menschen, die den zweiten Weltkrieg erlebt haben, durch die Berichte und Bilder über den Ukraine-Krieg an eigene Kriegserfahrungen erinnert fühlen. Dies kann mit verstärken Sorgen und Befürchtungen sowie dem Erleben vermehrter psychischer Belastung einhergehen.
DÄ: Fast alle Experten sind sich einig, dass es nicht ausreichende beziehungsweise keine zeitnahen Behandlungsmöglichkeiten für traumatisierte Geflüchtete geben wird. Was raten Sie?
Seidler: Es gibt gemeinnützige Vereine, die Beratung und Unterstützung für Flüchtlinge anbieten. Hier sei zum Beispiel das Netzwerk für traumatisierte Flüchtlinge in Niedersachsen mit psychosozialen Zentren in sechs Städten Niedersachsens genannt.
Ähnliche Strukturen gibt es auch in anderen Bundesländern. Solche Vereine sind meist auf Spenden angewiesen und bedürfen jetzt verstärkter finanzieller Unterstützung, um der zu erwartenden großen Nachfrage nachkommen zu können.
Es sollte meines Erachtens überlegt werden, wie in Deutschland lebende Menschen mit ukrainischer Sprachkenntnis als Laienberater für die psychosoziale Unterstützung von Flüchtlingen eingesetzt werden können.
Eine vorausgehende Vermittlung von Basiskompetenzen der Notfallpsychologie wäre dafür erforderlich. Ansprechpartner für solche Trainingskurse für Laienberater könnte beispielsweise die Fachgruppe Notfallpsychologie des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) sein. © PB/aerzteblatt.de

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