Vermischtes
„Häufig werden Schwarze Menschen mit Stereotypen seitens der Ärzteschaft konfrontiert“
Dienstag, 12. April 2022
Hamburg – Zum Ausmaß von strukturellem Rassismus im deutschen Gesundheitswesen liegen kaum Daten vor. Anhaltspunkte bietet der Afrozensus, der im Herbst 2021 erschienen ist. Auch die Erfahrungen und Berichte des Netzwerks „Black in Medicine“ geben Einblicke in die Problematik. Die Initiative bietet Schwarzen Medizinerinnen, Medizinern sowie Medizinstudierenden seit Oktober 2020 eine Anlaufstelle. Seit Januar 2022 ist Black in Medicine ein eingetragener Verein.
Mit dem Deutschen Ärzteblatt (DÄ) sprach die Mitbegründerin von „Black in Medicine“ Ngozi Odenigbo über die Versorgungslage Schwarzer Menschen in Deutschland und darüber, was sich im Gesundheitswesen ändern muss, um Rassismus zu verhindern.
5 Fragen an Ngozi Odenigbo, Weiterbildungsassistentin zur Fachärztin für Allgemeinmedizin, Hamburg
DÄ: Was hat Sie veranlasst, sich für „Black in Medicine“ zu engagieren?
Ngozi Odenigbo: Als Schwarzer Mensch in Deutschland ist die Auseinandersetzung mit dem Thema Schwarzsein und Rassismus eine nahezu alltägliche. Es gibt keine Lebensbereiche, die davon ausgenommen sind, sei es im Bereich Schule, Studium, Wohnungsmarkt, Arbeitswelt.
Durch eigene Erfahrungen im Studium, aber auch als Weiterbildungsassistentin, und durch den Austausch mit anderen Schwarzen Studentierenden sowie Ärztinnen und Ärzten ist uns die Notwendigkeit der Schaffung eines Raumes, in dem diese für uns relevanten Erfahrungen und Themen Sichtbarkeit erlangen können, bewusst geworden.
So ist „Black in Medicine“ entstanden, ein Netzwerk für Schwarze Medizinerinnen, Mediziner und Medizinstudierende. Wir sind eine sehr junge Initiative, und aktuell sind zirka 80 Personen in unserem Netzwerk registriert.
DÄ: Wie beurteilen Sie die Versorgungslage Schwarzer Menschen und People of Colour (POC) in Deutschland?
Odenigbo: Uns erreichen viele Anfragen von Schwarzen Menschen aus ganz Deutschland, die sich bezüglich Ärztinnen und Ärzten aller Fachrichtungen Empfehlungen wünschen, mit dem zugrundeliegenden Wunsch, dort keine Rassismuserfahrungen machen zu müssen.
Häufig werden Schwarze Patientinnen und Patienten mit Stereotypen seitens der behandelnden Ärzteschaft konfrontiert. Sie erleben Othering, berichten, oftmals mit ihren Beschwerden, zum Beispiel Schmerzen, nicht ernst genommen zu werden. Teilweise werden Ärztinnen und Ärzte auch körperlich und verbal übergriffig.
Auffällig oft berichten Schwarze Patientinnen und Patienten davon, im Bereich der Psychotherapie nicht adäquat behandelt zu werden. Im vermeintlich geschützten Kontext der Beziehung zwischen Patientinnen, Patienten mit ihren Therapeutinnen und Therapeuten erfahren viele Schwarze Menschen Gaslighting (Anmerkung der Redaktion: Form der Manipulation und des emotionalen Missbrauchs) oder werden durch rassistische Äußerungen und Verhaltensweisen der Therapeutinnen und Therapeuten retraumatisiert. Es fehlt das Bewusstsein für Rassimuserfahrungen als Determinante von Gesundheit. Folglich werden wichtige Aspekte der Lebensrealitäten vieler Betroffener ausgeblendet.
DÄ: Gibt es Studien oder Umfragen aus Deutschland, die dies bestätigen?
Odenigbo: Hier würde ich sehr gerne auf den Afrozensus verweisen. Der Afrozensus ist ein gemeinschaftliches Projekt von „Each One Teach One e.V.“ (EOTO) und „Citizens For Europe“ (CFE) und wurde in wissenschaftlicher Kooperation vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) begleitet.
In dieser großen Onlinebefragung, die 2021 durchgeführt wurde, wurden erstmals die Lebensrealitäten, Diskriminierungserfahrungen und Perspektiven Schwarzer, afrikanischer, afrodiasporischer Menschen in Deutschland erfasst.
Der Afrozensus ist die größte jemals durchgeführte Befragung unter Schwarzen, afrikanischen und afrodiasporischen Menschen in Deutschland. Insgesamt wurden die Teilnehmenden zu fünf Themenbereichen (Engagement, Diskriminierungserfahrungen in 14 Lebensbereichen, Anti-Schwarzen-Rassismus, Umgang mit Diskriminierung, Resilienz und Empowerment) befragt.
Zu den 14 untersuchten Lebensbereichen gehört auch der Bereich Gesundheitswesen. Dabei wird deutlich, dass Anti-Schwarzer-Rassismus intersektional mit anderen Diskriminierungsformen auftritt. So sind die Diskriminierungserfahrungen von Teilgruppen innerhalb der befragten Population unterschiedlich.
Befragte mit zwei afrikanischen/afrodiasporischen Elternteilen geben etwas häufiger an, diskriminiert zu werden als Befragte mit einem afrikanischen/afrodiasporischen Elternteil. Das mag initial erstaunen, wenn man sich jedoch mit dem Thema Rassismus auseinandersetzt, kommt man an dem Thema Colorism nicht vorbei. Und dies wird hier wirksam.
Je näher die Befragten einem eurozentrischen Bild entsprachen, desto geringer waren die Rassimuserfahrungen. Natürlich lässt sich dies nicht in einem linearen Bezug darstellen, da andere Diskriminierungsdimensionen wie Ableismus, Klassismus sowie geschlechterspezifische Diskriminierungen ebenfalls wirksam werden.
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DÄ: Ist eine zunehmende Sensibilisierung unter Ärztinnen und Ärzten für das Thema erkennbar in den vergangenen Jahren?
Odenigbo: Durch die „Black Lives Matter“ Bewegung ist der Diskurs um Anti-Schwarzer-Rassismus in Deutschland angekommen. Leider bleibt er nach wie vor allzu oft an der Oberfläche, da die zugrundeliegenden strukturellen Ursachen selten thematisiert werden.
Wenn wir den Bereich der Medizin betrachten, so ist auch hier erkennbar, dass der weiße, heterosexuelle cis-Mann im Zentrum steht. Sowohl im Studium, als auch später im Arbeits- und Weiterbildungskontext begegnen uns immer wieder, den „Schwarzen Körper“ betreffend, teilweise biologistische, letztendlich auf obsoleten „Rassenkonzepten“ beruhende Vorstellungen, vertreten durch Lehrende und Praktizierende. Die Sensibilisierungsarbeit wird leider, wie in vielen anderen Kontexten auch, den Menschen überlassen, die von Rassismus betroffen sind.
DÄ: Wie sollte sich die aktuelle Situation verändern?
Odenigbo: Dazu bedarf es meiner Ansicht nach Veränderungen auf unterschiedlichsten Ebenen, die strukturell umgesetzt werden und nicht von „sensibilisierten“ Einzelpersonen abhängig sind.
Im Bereich der Lehre würde ich mir unter anderem eine kritische Auseinandersetzung mit Teilen des Curriculums wünschen – hier beginnend mit der Medizingeschichte und der Rolle der Wissenschaften, allen voran der vieler deutscher Ärzte, die bei der Legitimierung und der Ausübung von Gewalt und Ausbeutung von Schwarzen Menschen maßgeblich beteiligt waren.
Auch sollte Schwarze Haut „normalisiert“ werden. Dazu gehört, dass wir beispielsweise auch Krankheitssymptome auf dunkler Haut erkennen. Denn ein Großteil der Weltbevölkerung hat keine helle Haut. Lehrbücher beziehen sich jedoch fast ausschließlich auf helle Haut. Der Schwarze Medizinstudent Malone Mukwende hat in England ein Buch veröffentlicht: „Mind the Gap: A Handbook of Clinical Signs in Black and Brown Skin“, um dem entgegen zu wirken.
Es wäre auch wichtig, dass es im Sinne des Qualitätsmanagements unabhängige Meldestellen gibt, um die Erfahrungen aller, im Kontext der Gesundheitsversorgung von Rassismus betroffenen Personen, sichtbar zu machen. Hierbei könnten Antirassismusbeauftragte eine wichtige Stütze sein. © gie/aerzteblatt.de

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