Politik
Übersterblichkeit: WHO-Autoren korrigieren Daten für Deutschland und Schweden
Donnerstag, 19. Mai 2022
Genf – Immer wieder wird über neue Daten zur Übersterblichkeit aufgrund der COVID-19-Pandemie berichtet. Dabei zeigen sich teils gegensätzliche Trends beim Ländervergleich. Die Ursache dafür könnte bei abweichenden Schätzungen zur Zahl der zu erwarteten Todesfälle liegen. Das erklärte der Epidemiologe André Karch von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster dem Deutschen Ärzteblatt (DÄ).
Zuletzt sorgten Zahlen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für Unruhe. Sie kamen zu dem Schluss, dass während der Pandemie weltweit 14,9 Millionen Menschen mehr gestorben seien, als es ohne die Pandemie zu erwarten gewesen wäre – vor allem in Ländern mit mittleren Einkommen. Das entspricht einem Zuwachs von etwa 14 Prozent.
Deutschland bescheinigte die WHO trotz strenger Lockdowns eine höhere Übersterblichkeit als einigen Nachbarländern, unter anderem auch Schweden. Hierzulande seien pro 100.000 Einwohner 116 Menschen mehr gestorben als erwartet. In Schweden soll die Übersterblichkeit mit 56 Menschen deutlich darunter gelegen haben. Die Bild titelte daraufhin „Coronazeugnis der WHO: So schlecht ist Deutschland durch die Pandemie gekommen“.
Inzwischen haben die Autoren der zugrunde liegenden Studie die Zahlen für Deutschland jedoch revidiert, wie der Letztautor Jonathan Wakefield von University of Washington dem DÄ auf Nachfrage mitteilte. Der Professor für Statistik ist Mitglied der technischen Beratungsgruppe der WHO COVID-19 Mortalitätsbewertungsgruppe.
Von den eigens geschätzten Mortalitätsdaten zeigte sich Wakefield bereits am 14. Mai in einem Interview mit der BBC nicht mehr überzeugt: „Im Jahr 2019 gab es in Deutschland eine niedrige Sterblichkeit, die unser Modell zu sehr beeinflusst hat.“
So sei es zu einer niedrigeren Mortalitätsschätzung gekommen für 2020 und 2021, die zu einer höheren Übersterblichkeit im Vergleich mit den Nachbarländern geführt hätte, wie sie vermutlich nicht stattgefunden habe, erläuterte Wakefield.
Im Interview kündigte er korrigierte Zahlen für Deutschland an, die schon bald veröffentlicht werden sollen. Auch die schwedischen Zahlen wollen sich die Experten der WHO nochmals ansehen, da sie davon ausgehen, dass diese unterschätzt worden sein könnten, so Wakefield.
Neue Berechnung führt zu vergleichbarer Übersterblichkeit in Deutschland und Schweden
In der revidierten Publikation heißt es jetzt sinngemäß: In Deutschland habe die Modellierung zu weniger zufriedenstellenden Schätzungen der Übersterblichkeit geführt. Aus der Standarddatenverarbeitung resultierte eine absolute Übersterblichkeit von 195.000. Diese Schätzung sei jedoch zu hoch gewesen.
Neue Berechnungen ergaben eine realistischere Schätzung von 122.000 zusätzlichen Todesfällen. Das Robert-Koch-Institut hat aktuell fast 138.000 COVID-19-Todesfälle erfasst. Die Übersterblichkeit für Schweden korrigierten die Autoren indes nach oben, von 11.300 auf 13.400.
Die Übersterblichkeit in Deutschland betrüge demnach für die beiden Pandemijahre 2020 und 2021 im Mittel 73 pro 100.000 Einwohner, in Schweden wären es 66. Jonathan Wakefield, Mitglied der technischen Beratungsgruppe der WHO COVID-19 Mortalitätsbewertungsgruppe.
Für Schweden und Deutschland wäre die Übersterblichkeit nun vergleichbar, sagte Wakefield dem DÄ: Die Übersterblichkeit in Deutschland betrüge demnach für die beiden Pandemiejahre 2020 und 2021 im Mittel 73,013 mit einem 95%-Kredibilitätsintervall von 59,565-84,583 pro 100.000 Einwohner (statt zuvor 116), in Schweden wären es 66,333 (57,567-74,938) (statt zuvor 56).
In den ursprünglichen WHO-Daten sieht man zudem, dass Schweden vor allem im ersten Pandemiejahr 2020 eine höhere Sterblichkeit zu verzeichnen hatte, während in Deutschland das zweite Pandemiejahr deutlich höher lag als 2020.
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An den globalen Zahlen zur Übersterblichkeit würden die neuen Berechnungen für Schweden und Deutschland nichts ändern, heißt es in der überarbeiteten Studie von Wakefield.
Auf Nachfrage teilte die WHO mit: „Die Schätzungen der Übersterblichkeit im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie werden in der nächsten Iteration, die im Laufe dieses Jahres geplant ist, für alle Länder systematisch aktualisiert – einschließlich einer Vollzeitreihe sowie für Deutschland.“
Weitere Schwachstellen sind laut Wakefield, dass viele Länder keine Register mit zuverlässigen Mortalitätsdaten hätten. Die WHO musste daher für 84 der 194 aufgelisteten Länder eine statistische Hochrechnung aufstellen. Vor allem fehlten Daten aus afrikanischen Ländern, gab Wakefield im Podcast der BBC zudem zu Bedenken.
Widersprüchliche Studien
Eine andere Studie, die im März in Humanities and Social Sciences Communications erschienen ist, konnte dem schwedischen Weg nichts positives abgewinnen (2022; DOI: 10.1057/s41599-022-01097-5). Im Mai 2020 etwa hätten sich die Todesfälle gehäuft, so dass Schweden mit seiner täglichen Sterblichkeitsrate pro Million Menschen in Europa mit am schlechtesten abschnitt und sich weltweit bis zum 30. April 2020 unter den Top 10 bewegte.
Die schwedische Reaktion auf diese Pandemie sei einzigartig gewesen und hätte sich durch einen moralisch, ethisch und wissenschaftlich fragwürdigen Laissez-faire-Ansatz gekennzeichnet, schlussfolgerten die Autoren um Erstautorin Nele Brusselaears vom Karolinska Institut in Stockholm.
Todesfälle und Übersterblichkeit
- WHO: Während der Pandemie sind weltweit 14,9 Millionen Menschen mehr gestorben, als es ohne die Pandemie zu erwarten gewesen wäre – vor allem in Ländern mit mittleren Einkommen.
- Lancet: Die Übersterblichkeit während der Pandemie lag bei 18,2 Millionen.
- Robert Koch-Institut: Aktuell wurden fast 138.000 COVID-19-Todesfälle in Deutschland erfasst (Stand 18. Mai 2022).
- Die berechnungen basieren unter anderem auf der World Mortality Database, der Human Mortality Database und dem European Statistical Office.
Im Lancet kamen Forschende der University of Washington in Seattle wiederum zu dem Schluss, dass Schweden die geringere Übersterblichkeit habe im Vergleich zu Deutschland (DOI: 10.1016/S0140-6736(21)02796-3).
Bis zum 31. Dezember 2021 erreichten die weltweit gemeldeten Todesfälle aufgrund von COVID-19 5,94 Millionen. Die geschätzte Zahl der zusätzlichen Todesfälle war jedoch fast 3-Mal so hoch (95 % UI 2,88 - 3,30) und erreichte 18,2 Millionen (17,1 - 19,6) – 3,3 Millionen mehr als die WHO berechnet hatte.
Die globale altersübergreifende Übersterblichkeitsrate aufgrund der COVID-19-Pandemie betrug 120,3 Todesfälle (113,1 - 129,3) pro 100.000 Einwohner. Für Deutschland wird ähnlich wie bei den ursprünglichen Zahlen der WHO eine Übersterblichkeit von 120,5 (115,1 - 125,1) pro 100.000 angegeben. Die errechnete Übersterblichkeit für Schweden ist mit 91,2 (85,2 - 98,1) jedoch deutlich höher als die ursprünglich berechnete Zahl der WHO.
Auch auf der Webseite Our World in Data kann man einen Vergleich zwischen Schweden und Deutschland zur Übersterblichkeit abrufen (siehe Bildergalerie). Dieser basiert auf Daten von The Economist. Die geschätzte kumulative Übersterblichkeit pro 100.000 Menschen während der Pandemie lag demnach für Schweden mit 125 niedriger als für Deutschland mit 144 zusätzlichen Todesfällen pro 100.000 Menschen.
Schlechter als Deutschland schneidet Schweden ab, wenn man die prozentuale Differenz zwischen den kumulierten Todesfälle seit dem 1. Januar 2020 und den kumulierten prognostizierten Todesfällen im Vergleich zum Vorjahr betrachtet. Diese Daten stammen aus der Human Mortality Database und dem World Mortality Dataset.
Auch die Datenanalyse der Financial Times kommt zu einem vorteilhaften Ergebnis für Deutschland gegenüber Schweden. Diese Zahlen basieren auf National Mortality Data, CONASS und dem Karlinsky and Kobak’s World Mortality Dataset.
Fehleranfällige Berechnungen
„Der kritischen Punkt bei allen Schätzungen der Übersterblichkeit ist die Annahme, wieviele Todesfälle in dem betroffenen Jahr in dem jeweiligen Land zu erwarten gewesen wären“, erklärte Karch, Stellvertretender Institutsdirektor und Leiter Klinische Epidemiologie an der Universität Münster.
Diese Schätzung sei nicht trivial, weil sich die Bevölkerungsstruktur selbst in einem Jahr relevant verändere. „Es müssen beispielsweise auch Hitze- und Influenzawellen berücksichtigt werden. Über die vergangenen Jahre beobachtete Trends verlaufen nicht zwingend linear“, so Karch.
Diese Einschränkung erwähnte auch Dmitri A. Jdanov, Leiter des Arbeitsbereiches demografische Daten am Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock. Abweichende Ergebnisse kommen durch unterschiedliche Modelle zur Berechnung des erwarteten Sterblichkeitsniveaus, der sogenannten Baseline, zustande: „Die Methoden, die während der COVID-19-Pandemie am häufigsten verwendet wurden, sind einfache (wochen-)spezifische Durchschnittswerte und Regressionsmodelle“, erklärte Jdanov im Interview. In der Literatur gebe es jedoch Dutzende Methoden.
4 Faktoren, die die Übersterblichkeit beeinflussen:
- Mortalitätsindex
- Methode
- Referenzzeitraum
- Zeiteinheit der Todesfallreihe
In seiner aktuellen Studie hat er mit seinem Team vier Faktoren bei 26 Ländern untersucht (Deutschland war nicht dabei), die Einfluss auf die Berechnung der Übersterblichkeit haben (siehe Kasten; doi: 10.1111/padr.12475). Die Studienautoren geben auch Empfehlungen, um die Übersterblichkeit künftig genaue berechnen zu können.
Das Ergebnis erklärte Jdanov im Interview: „Wir haben gezeigt, dass die Übersterblichkeitsraten bei einer Änderung dieser Faktoren erheblich schwankten, und dass sich das Ausmaß dieser Schwankungen innerhalb der Länder deutlich veränderte.“ Das führte wiederum zu Veränderungen in der Rangliste der Länder mit der höchsten Übersterblichkeit.
So änderte sich beispielsweise der absolute Wert der Unterschiede in den Übersterblichkeitsraten, innerhalb der Länder erheblich, wenn der Bezugszeitraum geändert wird: „Die Punktschätzung reicht von 0,1 bis 55 Todesfälle pro 100.000 Einwohner. Diese Veränderungen sind in den einzelnen Ländern nicht einheitlich, so dass länderübergreifende Vergleiche, die auf unterschiedlichen Methoden beruhen, erheblich voneinander abweichen“, sagte Jdanov. Zudem führten längere Referenzzeiträume in den meisten Ländern zu einer geringeren Übersterblichkeit.
Die Qualität der Schätzungen der Übersterblichkeit hängt von den verfügbaren Daten ab – wobei mehr als die Hälfte der Länder der Welt nicht über zuverlässige Bevölkerungsstatistiken verfügen würden, ergänzte Jdanov gegenüber dem DÄ. Dennoch ist Jdanov überzeugt, dass die Übersterblichkeit der zuverlässigste Ansatz zur Quantifizierung der Mortalitätsbelastung durch die COVID-19-Pandemie ist.
Denn dabei würden nicht nur die direkten Todesfälle durch COVID-19 berücksichtigt, sondern alle durch die Pandemie verursachten Todesfälle, einschließlich der Todesfälle aufgrund von Komplikationen nach COVID-19, verzögerter medizinischer Behandlung und versteckter COVID-19-Todesfälle, die nicht durch Tests bestätigt wurden, so der Epidemiologe. © gie/aerzteblatt.de

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