Politik
Verband warnt: 30 Prozent aller Medizinprodukte könnten verschwinden
Mittwoch, 18. Mai 2022
Berlin – Der Bundesverband Medizintechnologie (BVMed) sieht die Versorgung von Patienten mit Medizinprodukten und In-vitro-Diagnostika gefährdet. Grund seien die Richtlinien der Europäischen Medizinprodukteverordnung (Medical Device Regulation – MDR) und der EU-Verordnung über In-vitro-Diagnostika (IVDR), die zum Marktaustritt vieler Produkte führen könne.
Der BVMed und der TÜV Süd rechnen damit, dass die Übergangsfrist zur Zertifizierung von Medizinprodukten bis zum 26. Mai 2024 nicht ausreichen wird, um alle Medizinprodukte abzuarbeiten. Das erklärte Frank Matzek, Vice President Regulatory and Governmental Affairs bei Biotronik, heute bei der MDR-Branchenkonferenz des BVMed.
„Es wird nicht reichen“, stimmte ihm Royth von Hahn zu, der Leiter des Bereichs Medical & Health Services (MHS) von TÜV Süd. Die Übergangsfrist müsse über den 26. Mai 2024 hinaus verlängert werden. Ohne einige wesentliche Schritte laufe das Gesundheitswesen auf Engpässe bei wichtigen Medizinprodukten zu, da es nicht genug Benannte Stellen gebe, die sie zertifizieren könnten. Rund 30 Prozent aller Medizinprodukte könnten deshalb demnächst vom Markt verschwinden, warnt der BVMed.
28 Benannte Stellen sind bisher unter der MDR designiert, 56 Bewerbungen seien noch offen, erklärte Matzek. Werden die Stellen bis zum Ende der Übergangsphase im Mai 2024 in derselben Geschwindigkeit weiter benannt, sei mit 48 von ihnen zu rechnen.
Zuletzt gab es laut Metz 58 Benannte Stellen, die über einen Zeitraum von fünf Jahren zusammen 25.000 (AI)MDD-Zertifikate – die Vorgänger der MDR – ausgestellt hatten. Mit den jetzt 28 Benannten Stellen seien zwar bereits 70 Prozent der bisherigen Kapazitäten erreicht und weitere Benennungen würden keine signifikanten Kapazitätserweiterungen mehr bringen. Doch der Aufwand für die MDR-Zertifizierungen sei „gefestigten Schätzungen“ zufolge ungefähr doppelt so hoch wie zuvor.
Es gebe „keine ausreichende Klarheit, was genau wir machen müssen“, bestätigte von Hahn die Schwierigkeiten der Benannten Stellen bei der Zertifizierung. Mehr als 1.000 Mitarbeiter seien mittlerweile im Bereich MHS beim TÜV Süd mit der MDR betraut, aufgrund des starken Ausbaus habe die Hälfte des dortigen Personals zwei Jahre oder weniger an Erfahrung.
Die bisherige Frist sei deshalb nicht zu halten, waren sich beide einig. Ich weiß nicht, ob da von der Politik eine Fassade aufrechterhalten werden soll“, sagte Matzek. „Es dringt aber langsam durch, dass das so nicht zu leisten ist.“
Der BVMed richtet nun im Schulterschluss mit dem Verband der Diagnostica-Industrie (VDGH) ein Paket an Forderungen an die Politik. Allen voran: Die Kapazitäten der Benannten Stellen müssten ausgebaut werden.
Im Vergleich zu den bisherigen Richtlinien gebe es nämlich unter der MDR und IVDR weniger Benannte Stellen und weniger Ressourcen bei einer größeren Zahl zu zertifizierender Produkte in einem kürzeren Zeitraum sowie umfangreicheren Prüfungen und Audits.
Es brauche nicht nur mehr Benannte Stellen, sondern es müssten auch das Joint- Assessment-Verfahren für Neubenennungen und Re-Assessments beschleunigt, Anreize für Neuanträge von Benannten Stellen gesetzt werden sowie alle Hersteller gleichermaßen Zugang zu Benannten Stellen erhalten.
Weiterhin müssten neben dem Kapazitätsausbau auch die vorhandenen Ressourcen zielgerichteter eingesetzt werden. Die Priorität müsse dabei vor allem auf QMS-Audits und Reviews technischer Dokumentationen liegen. Unter anderem solle sich die Bewertungstiefe an der Klasse und der Neuartigkeit eines Produkts orientieren.
Abgeschafft werden müssten auch bürokratische Hürden für nicht signifikante Änderungen von Produkten, die bereits seit Jahrzehnten auf dem Markt sind. Rund acht Prozent aller momentanen Reviews befassen sich mit solchen sogenannten Legacy Devices, beklagte Matzek. Für Nischenprodukte müssten außerdem harmonisierte und europaweit gültige Sonderregelungen geschaffen werden.
Die Kapazitätsengpässe und bürokratischen Hürden würden derzeit die Innovationskraft der Branche hemmen, beklagen die beiden Verbände. „Derzeit gestaltet sich das Inverkehrbringen von neuen Produkten als äußerst schwierig und entzieht sich der Planungssicherheit des Herstellers“, schreiben sie in ihrem gemeinsamen Positionspapier. „Für Hersteller ohne Benannte Stelle ist ein Marktzugang für neue Produkte versperrt, da Zertifizierungskapazitäten für Neuprodukte fehlen.“
Auch wenn sie eine Benannte Stelle hätten, seien sie mit Herausforderungen konfrontiert: Für die Überführung von Bestandsprodukten gelten zeitlich begrenzte Übergangsfristen – deshalb würden Ressourcen auf Seiten der Hersteller und der Benannten Stellen aktuell auf Bestandsprodukte verlagert, um die kontinuierliche Marktverfügbarkeit etablierter Therapien zu gewährleisten.
Deshalb stünden derzeit keine Ressourcen für Innovationen zur Verfügung. Während die Branche sonst rund zehn Prozent des Umsatzes in Forschung und Entwicklung stecke. „Um den Innovationsstandort Europa nicht zu verlieren, brauchen wir ein Fast-Track-Verfahren für Innovationen“, so die Forderung von BVMed und VDGH. © lau/aerzteblatt.de

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