Ärzteschaft
Junge Ärztinnen und Ärzte wollen sich nicht der Macht des Geldes unterordnen
Montag, 23. Mai 2022
Bremen – Das richtige Maß zwischen dem medizinisch Machbaren, ethisch Vertretbaren und ökonomisch Möglichen zu finden, ist für die meisten Ärztinnen und Ärzte täglich ein Balanceakt, der häufig zu Frustration führt. Der ärztliche Nachwuchs beschreibt ihn auch als „Realitätsschock“, wie heute im Vorfeld des 126. Deutschen Ärztetages in Bremen deutlich wurde. Doch stumm beugen wollen sich junge Ärztinnen und Ärzte der Macht des Geldes nicht.
Beim von der Bundesärztekammer organisierten Dialogforum Junger Ärztinnen und Ärzte – diesmal unter der Fragestellung „Die Macht des Geldes über ärztliche Entscheidungen“ – beschrieben die Teilnehmenden ihre Erfahrungen bezüglich der Kommerzialisierung der Medizin in stationärer und ambulanter Versorgung.
Dabei zeigten sich zwei Tendenzen: Erstens, problematisch wird es für viele dann, wenn ihre medizinisch-ärztlichen Entscheidungen und das Wohlergehen der Patientinnen und Patienten von wirtschaftlichen Interessen beeinträchtigt werden.
Zweitens, die nachwachsende Ärztegeneration ist offensichtsichtlich nicht mehr gewillt, sich ohne Diskussion und Widerstand dem wachsenden Druck auszusetzen und das ärztliche Handeln einer betriebswirtschaftlichen Nutzenoptimierung unterzuordnen.
„Es gibt einen Silberstreif am Horizont. Wenn wir erkennen, dass wir Teil des Systems sind und uns engagieren, können wir gemeinsam viele Dinge erreichen“, fasste die Internistin Christina Hillebrecht, Vizepräsidentin der Ärztekammer Bremen, die Dialogveranstaltung zusammen.
Einig waren sich die Nachwuchsärzte, dass zwischen Ökonomie und Kommerzialisierung unterschieden werden müsse. Des ökonomischen Druckes sollte man sich auch immer bewusst sein, um klar zwischen den medizinischen und ökonomischen Rahmenbedingungen unterscheiden zu können, sagte Melissa Camara Romero vom Forum Junger Ärzte der Ärztekammer Nordrhein dem Deutschen Ärzteblatt.
Man sollte versuchen, bereits von Anfang an auch die ökonomischen Aspekte zu verstehen, um sich nicht unwillkürlich in der medizinischen Behandlung steuern zu lassen. „Dazu sollte man sich Vorbilder in der Führungsebene suchen und immer im Austausch mit den anderen Kolleginnen und Kollegen stehen.“
Vorbildwirkung könne der Ärzte-Codex haben, dem sich mittlerweile 42 Organisationen, darunter die Bundesärztekammer, der Marburger Bund, der Hartmannbund und viele Fachgesellschaften, angeschlossen haben.
Der Ärzte-Codex solle jungen Ärztinnen und Ärzten dabei helfen, die Auswirkungen der Ökonomisierung kritisch in ihrem persönlichen Arbeitsgebiet zu reflektieren, sagte Petra-Maria Schumm-Draeger, ehemalige Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin, die zu den Initiatoren des Codex gehört. Er könne Ärztinnen und Ärzten Rückhalt bei Diskussionen mit der kaufmännischen Klinikleitung geben, betonte sie heute.
„Wir treffen keine ärztlichen Entscheidungen und werden keine medizinischen Maßnahmen durchführen und solche Leistungen weglassen, welche aufgrund wirtschaftlicher Zielvorgaben und Überlegungen das Patientenwohl verletzen und dem Patienten Schaden zufügen könnten“, heißt es in dem Codex unter anderem.
Und weiter: „Wir werden unsere ärztliche Heilkunst ausüben, ohne uns von wirtschaftlichem Druck, finanziellen Anreizsystemen oder ökonomischen Drohungen dazu bewegen zu lassen, uns von unserer Berufsethik und den Geboten der Menschlichkeit abzuwenden.“
Zwar sollte man sich diesen Codex immer vor Augen führen, sagte Eleonore Zergiebel, Internistin und Leiterin des Medizincontrollings in Düren sowie Mitglied im Vorstand der Ärztekammer Nordrhein. Es sei jedoch politisch so gewollt, dass sich Wirtschaftlichkeit in das Arzt-Patienten-Verhältnis dränge und somit reiche der Ärzte-Codex nicht aus. „Das einzige, das helfen kann, ist die Abschaffung der Fallpauschalen“, meinte Zergiebel.
Der Ärzte-Codex solle auch keine konkrete Lösung darstellen, sondern viel mehr eine Awareness für das Thema schaffen, so Schumm-Draeger. Auch sie ist der Meinung, dass sich das Gesundheitssystem nur mit einer völligen Abschaffung des Fallpauschalensystems (DRG) verbessern könne.
Für ein neues System fehle der politische Wille, lenkte Sebastian Erz, Arzt und Betriebswirtschaftler, ein. Er plädiert dafür, das bestehende Systems zu verändern. So beruhe die Fallpauschale beispielsweise auf Ist-Kosten einer nicht repräsentativen Stichprobe. Das sollte sich seiner Meinung nach ändern.
So lange private Träger, wie beispielsweise die Heliosgruppe, das Ziel hätten, ihre Marktposition auszubauen und zehn Prozent Rendite zu erwirtschaften, so lange werde es den Beschäftigten im Gesundheitssystem nicht bessergehen. „Reformation gerne bis zu einem bestimmten Punkt, aber am Ende brauchen wir eine Revolution“, forderte Lucas Kemmesies, Arzt in Weiterbildung für Anästhesie und Intensivmedizin im Helioskonzern.
Kemmesies ist Mitglied bei den Bunten Kitteln, die alle im Gesundheitssystem tätigen Personen dazu auffordern, sich für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Gesundheitssystem einzusetzen. Die Bunten Kittel sind ein Zusammenschluss von jungen Menschen aus verschiedenen Gesundheitsberufen, die mit ihren Aktionen – beispielsweise wöchentlichen Protesten und Podcasts – die Öffentlichkeit für das Thema Kommerzialisierung im Gesundheitssystem sensibilisieren wollen.
„Wir leben im 21. Jahrhundert und wir schaffen es immer noch nicht, Überstunden auszubezahlen“, so Kemmesies. Über 40 Prozent der Ärztinnen und Ärzte habe eine wöchentliche Arbeitszeit zwischen 49 und 59 Stunden laut Marburger Bund Monitor 2019. Etwas mehr als 20 Prozent arbeiten über 59 Stunden.
Krankenhäuser lagerten zunehmend Kosten an externe Servicegesellschaften aus. In den Jahren zwischen 2010 und 2018 habe sich die Zahl verdoppelt: Von zwei Milliarden Euro auf vier Milliarden Euro. Kliniken täten dies mit dem Ziel, Personalkosten zu senken und Tarifverträge zu unterwandern, so Kemmesies. „Der Neoliberalismus frisst das Gesundheitssystem auf. Das funktioniert so nicht mehr“.
Das deutsche Gesundheitssystem sei zwar eines der teuersten auf der Welt, aber nicht unbedingt das Beste, ergänzte Frieder Hummes, ebenfalls Mitglied der Bunten Kittel und internistischer Assistenzarzt. „Deswegen ist unserer Meinung nach die konsequenteste Forderung, dies komplett abzuschaffen und ein komplett neues System einzuführen.“
Neben den DRG kritisieren die Bunten Kittel auch das Bestehen von privater neben gesetzlicher Krankenversicherung. Weiter bemängeln sie die aktuelle Besetzung der seit 2022 neuen Krankenhauskommission.
Hier sind 12 von 15 Mitgliedern Professorinnen oder Professoren, dies spiegele kein repräsentatives Bild des Krankenhauspersonals wider. Angestellte unterschiedlicher Gesundheitsberufe, Patientinnen und Patienten sowie Forschende sollten nach Ansicht der Bunten Kittel Teil des Gremiums sein.
Raus aus der stationären Versorgung, rein in den ambulanten Bereich – einige junge Ärztinnen und Ärzte sehen das als eine Möglichkeit, dem Druck im Krankenhaus zu entkommen. Im Vergleich zu den Kliniken können die Arbeitszeiten im ambulanten Sektor angenehmer und besser mit dem Privatleben zu vereinbaren sein, das ärztliche Arbeiten selbstbestimmter.
Aber auch der kommerzielle Druck in den Kliniken spiele eine Rolle, berichtete Pedram Emami, Moderator des Blocks zur ambulanten Versorgung bei der Dialogveranstaltung, von seinen Erfahrungen und Gesprächen als Präsident der Ärztekammer Hamburg. Teilweise werde er sogar als Hauptgrund für eine „Flucht in den ambulanten Bereich“ genannt. Doch wenn das die Lösung sei, sei es verwunderlich, warum vor allem die Zahl der angestellten Ärztinnen und Ärzte im ambulanten Bereich steige und die Zahl der Selbstständigen abnehme.
„Ich hatte mich infrage gestellt als Dienstleisterin für Operationen im Kontext von Über- und Fehlversorgung“, berichtete die Anästhesistin Corinna Schilling. Sie wechselte vom Krankenhaus in ein Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ). Dort seien zwar auch „schwarze Zahlen“ geschrieben worden, aber sie habe sich nicht so unter Druck gefühlt.
Natürlich habe sie sich vor ihrem Wechsel in den ambulanten Bereich gefragt, ob sie dem wirtschaftlichen Druck und dem finanziellen Risiko als niedergelassene Ärztin gewachsen sei, sagte Lara Serowinski. „Aber ich hatte noch nie insolvente Ärzte getroffen.“
Sie entschied sich deshalb für die Niederlassung und brach ihre Weiterbildung zur Internistin ab und wechselte in die Allgemeinmedizin. „Das war die beste Entscheidung“, sagte die Fachärztin für Allgemeinmedizin in einer Gemeinschaftspraxis heute. „Ich optimiere auch meine Abläufe und setze Grenzen, aber nicht zur Gewinnmaximierung, sondern, um Zeit für meine Patienten zu haben.“
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- DO // 11.8. // MB Monitor
Doch was überwiegt in der eigenen Praxis – die Selbstbestimmung oder die Selbstausbeutung? „Ich fühle mich nicht unter einem finanziellen Druck, aber teilweise schon unter einem persönlichen Zeitdruck“, berichtete Ellen Lundershausen, Vizepräsidentin der Bundesärztekammer, Präsidentin der Ärztekammer Thüringen und niedergelassenen HNO-Ärztin. Der Zeitdruck entstehe, wenn man durch die Patientenströme überfordert sei. Ausgebeutet habe sie sich trotzdem niemals gefühlt, da sie ihren Beruf selbst organisiert habe.
Mehr Unterstützungsangebote von den ärztlichen Organisationen, die auch tatsächlich an die jungen Kolleginnen und Kollegen herankommen, wünscht sich diesbezüglich Max Tischler, Sprecher des Bündnisses Junge Ärzte.
„Man muss als junger Arzt oder junge Ärztin lernen, sich vor Selbstausbeutung zu schützen“, betonte der Dermatologe. Seit einiger Zeit arbeite er nun als angestellter Arzt in einer Praxis und habe die Möglichkeiten der Selbstbestimmung dort kennengelernt. „Und auch Selbstbestimmung muss man lernen“, sagte er. Auch dabei könnten die Kammern unterstützen.
Der derzeitige Trend, dass zunehmend angestellte Ärztinnen und Ärzte im ambulanten Bereich tätig werden, unterstreicht die Notwendigkeit der Wahrung und Förderung der ärztlichen Selbstständigkeit – zum Wohle der Patientinnen und Patienten. „Private-Equity-Gesellschaften, die auf hohe Renditen ihrer Investitionen setzen, kümmern sich nicht darum, ob es in der Eifel ausreichend Hausärzte gibt“, sagte Lundershausen.
Doch die Ärztinnen und Ärzte könnten auch selbst an sich arbeiten: „Teilweise ist die Ärzteschaft jedoch auch unehrlich, was Zeit und Geld angeht“, kritisierte Lundershausen. Es sei eine Frage der Sozialisation und der moralischen Motivation, auch zu sagen „So möchte ich nicht mit meinen Patienten umgehen.“ Hier müsse die Ärzteschaft Flagge zeigen und sagen, wo ihr Codex angesiedelt sei. „Da sind wir auch als Ärztekammern gefragt.“ © ER/mim/aerzteblatt.de

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