Ärzteschaft
Ärztetag für umfassende Reformen im Gesundheitswesen
Dienstag, 24. Mai 2022
Bremen – Neben wichtigen kurzfristigen Reformen zur Verbesserung der Krisenreaktionsfähigkeit Deutschlands gelte es, auch strukturell die richtigen Lehren aus der Coronapandemie zu ziehen. Dafür sprachen sich heute die Delegierten des 126. Deutschen Ärztetages in Bremen aus.
In dem einstimmig beschlossenen Leitantrag zur Gesundheits-, Sozial- und ärztlichen Berufspolitik heißt es, insbesondere die ambulanten und stationären Versorgungsstrukturen müssten patientengerecht, sektorenverbindend und digital vernetzt ausgestaltet werden. Bei den anstehenden Reformen im Gesundheitswesen müsse immer der Mensch der Maßstab des politischen Handelns sein, heißt es in dem Beschluss.
Die Ausgestaltung der ambulanten und stationären Versorgungsstrukturen, die Versorgungsplanung, die Vergütung sowie die digitale und personelle Vernetzung der Versorgungsbereiche müssten sich an dem tatsächlichen Bedarf der Patientinnen und Patienten orientieren. Eine Ausrichtung ausschließlich an ökonomischen Parametern oder an einem „überkommenen Sektorendenken“ dürfe es nicht geben.
Die Ärztetagsdelegierten begrüßten die Ankündigung der Bundesregierung für eine umfassende und grundlegende Reform der Krankenhausstrukturen in Deutschland. Ohne eine solche Reform mit tiefgreifenden Veränderungen drohe „in absehbarer Zeit ein Kollaps“ der stationären Versorgung.
Notwendig sei eine Krankenhausvergütungsstruktur, die sich aus pauschalierten Vergütungskomponenten zur Deckung von fallzahlunabhängigen Vorhaltekosten, aus fallzahlabhängigen Vergütungsanteilen sowie aus einem Budget zur Strukturqualität zusammensetzt, so die konkrete Forderung. Zudem müsse die bereits umgesetzte Ausgliederung der Personalkosten in der Pflege aus dem System der diagnosebezogenen Fallpauschalen (DRG) von der Politik auch auf das ärztliche Personal ausgedehnt werden.
Bezüglich der Finanzierung der Krankenhausinvestitionskosten – für die derzeit die Bundesländer zuständig sind – plädierte die Ärzteschaft für eine dauerhafte additive Kofinanzierung durch den Bund. Dieser Mechanismus solle „unter Wahrung der grundgesetzlich verbrieften Krankenhausplanungshoheit der Länder“ umgesetzt werden.
Sektorenverbindende Versorgung umsetzen
Ebenfalls notwendig seien Konzepte für eine moderne sektorenverbindende Versorgungsplanung, für eine engere personelle und digitale Verknüpfung der Sektoren sowie für neue interprofessionelle Kooperationsmodelle.
Die im Koalitionsvertrag der Ampelkoalition angekündigten Maßnahmen für eine stärker sektorenverbindende Versorgung könnten „erste Schritte“ in diese Richtung darstellen.
Der Ärztetag forderte die Bundesregierung auf, gemeinsam mit der Bundesärztekammer (BÄK) konkrete Reformeckpunkte für den Ausbau sektorenverbindender Kooperation, Planung und Vergütung zu entwickeln.
Die Ärzteschaft verfüge über jahrelange Erfahrung im Aufbau von unterschiedlichen Modellen der integrierten sowie der strukturierten haus- und fachärztlichen Versorgung, von Praxisnetzen, regionalen Gesundheitszentren und überörtlichen Berufsausübungsgemeinschaften, die sie in die Beratungen einbringen könne.
In diesem Zusammenhang sprachen sich die Delegierten auch dafür aus, die haus- und fachärztliche Praxen zu stärken. Nur mit einer Förderung der Niederlassung könne die Tendenz zur Anstellung und Teilzeittätigkeit ermöglicht und der Kommerzialisierung entgegengewirkt werden. Bewährte Versorgungsstrukturen müssten erhalten und ausgebaut werden.
Notfallversorgung reformieren
Zwingend ist nach Ansicht der Delegierten auch eine Neuausrichtung der Notfallversorgung in Deutschland. Diese sei nicht nur versorgungspolitisch dringend erforderlich, sie biete darüber hinaus die Möglichkeit, Strukturen für eine moderne sektorenverbindende Versorgung zu schaffen.
Einen gänzlich neuen Versorgungsbereich solle es aber nicht geben. Vielmehr gelte es, bestehende Versorgungsangebote – wie Portalpraxen und Bereitschaftsdienstpraxen an Krankenhäusern – unter Einbeziehung der Ärztekammern weiterzuentwickeln.
Die Planungsvorgaben durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) seien „auf ein erforderliches Mindestmaß“ zu beschränken, so die Ärzteschaft.
Digitalisierung der Praxen nicht nur fordern, sondern fördern
Angesichts der notwendigen „enormen Investitionen“ in den digitalen Ausbau der Arztpraxen, forderte der 126. Deutsche Ärztetag den Gesetzgeber auf, in Analogie zum Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG) ein Praxiszukunftsgesetz zu beschließen. Die dsfür erforderlichen finanziellen Mittel seien durch den Bund und die Länder zur Verfügung zu stellen.
Alle digitalen Anwendungen, die in der Patientenversorgung zum Einsatz kommen sollen, müssten umfangreichen Tests vor einem verpflichtenden bundesweiten Rollout unterzogen werden, so eine weitere Forderung. Grundsätzlich sei eine „realistische und transparente versorgungsorientierte Digitalstrategie“ erforderlich.
Die Bundesregierung solle sich die nächsten zwölf Monate auf die Einführung des Notfalldatensatzes und auf die sichere Kommunikation im Gesundheitswesen fokussieren. Parallel dazu sei durch die Etablierung einer dauerhaften Testregion die Möglichkeit zu schaffen, die weiteren digitalen Anwendungen unter realen Bedingungen zu erproben.
Multiprofessionelle Zusammenarbeit ausbauen
Die persönliche Leistungserbringung als eines der Wesensmerkmale freiberuflicher, ärztlicher Tätigkeit schließt es nach Ansicht des Ärztetags nicht aus, dass Ärzte verstärkt kooperative Formen der Zusammenarbeit mit anderen im Gesundheitswesen tätigen Berufsgruppen anstreben.
Unerlässlich sei aber, so die Delegierten, dass innerhalb dieser Teams Qualifikationen, Aufgaben- und Verantwortungsbereiche – unter Berücksichtigung ärztlicher Kernkompetenzen und Vorbehaltsaufgaben – klar zugewiesen und definiert sind.
Unter diesen Voraussetzungen könnten und sollten Konzepte für einen interdisziplinären, multiprofessionellen und ganzheitlichen Behandlungs- und Betreuungsansatz entwickelt werden.
Einer an den Versorgungserfordernissen orientierten Entwicklung neuer Berufsbilder beziehungsweise einer Anpassung bestehender Gesundheitsfachberufe an die sich ändernden Anforderungen in der Patientenversorgung steht die Ärzteschaft offen gegenüber.
Gesundheitskompetenz stärken
Neben strukturellen Reformen der Versorgungslandschaft seien gerade in einer Gesellschaft des langen Lebens Maßnahmen notwendig, die auf die Gesunderhaltung der Bürger und einen verantwortungsvollen Umgang mit der eigenen Gesundheit abzielen.
Konkret soll laut Ärztetag das Nationale Gesundheitsportal unter der Federführung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) beziehungsweise des neu zu gründenden Bundesinstituts für öffentliche Gesundheit weiterentwickelt, ausgebaut sowie sein Bekanntheitsgrad deutlich erhöht werden.
Die Bemühungen um die Förderung der Gesundheitskompetenz dürften sich aber nicht nur auf den Gesundheitssektor beschränken: Die Vermittlung von Gesundheitskompetenz müsse in allen Lebenswelten der Bürger gefördert werden. Da die Ärzteschaft nur der Gesundheit des Einzelnen verpflichtet sind, sondern der Gesunderhaltung der Gesellschaft als Ganzes, unterstütze man den Ansatz von „Health in All Policies“.
In diesem Rahmen sollten neben der Gesundheitspolitik unter anderem auch die Sozial-, Bildungs-, Umwelt-, Verkehrs-, Stadtentwicklungs-, Wirtschafts- und Arbeitspolitik einbezogen werden. In allen diesen Politikbereichen könnten Maßnahmen getroffen werden, die gesundheitsförderlich wirken – selbst wenn sie Gesundheit nicht explizit thematisieren.
Dazu würden beispielsweise Maßnahmen gegen Altersarmut und -einsamkeit, zur Schaffung gesundheitsfördernder Wohn- und Lebensverhältnisse, zur Grundsicherung oder auch zur Begrenzung von Kinder- und Familienarmut gehören.
Obwohl es in Deutschland zahlreiche vielversprechende Ansätze gebe, sei eine strukturierte bereichsübergreifende Zusammenarbeit aller in diesem Kontext relevanten Akteure noch nicht erreicht worden. Hierfür bedürfe es einer Präventionsstrategie unter Beteiligung aller Akteure – insbesondere auch der verfassten Ärzteschaft. © aha/aerzteblatt.de

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