Medizin
Warum ein Schlaganfall manchmal eine Nikotin- und Alkoholsucht kuriert
Donnerstag, 16. Juni 2022
Boston – Veränderungen in den Nervenverbindungen, zu denen es nach einem Schlaganfall im Gehirn kommt, könnten erklären, warum einige Patienten von heute auf morgen das Interesse an Zigaretten und Alkohol verlieren. Die in Nature Medicine (2022; DOI: 10.1038/s41591-022-01834-y) beschriebene veränderte Konnektivität erklärt die Wirksamkeit einer transkraniellen Magnetstimulation (TMS), deren Effektivität durch die neuen Studienergebnisse möglicherweise verbessert werden könnte.
Die Hirnforschung verdankt viele Erkenntnisse zur Hirnfunktion den Kasuistiken von Patienten, bei denen es nach einem Schlaganfall oder anderen Verletzungen zum Ausfall bestimmter Hirnzentren gekommen ist. Die neurologischen Symptome lassen häufig Rückschlüsse auf die normale Funktion dieser Regionen zu.
Manchmal hat ein Schlaganfall auch positive Auswirkungen. So berichten Neurologen hin und wieder von Patienten, die nach einem Schlaganfall ohne Entzugserscheinungen auf das Rauchen oder auch auf Alkohol verzichten konnten.
Diese Fälle traten jedoch nach Läsionen in sehr unterschiedlichen Hirnbereichen auf. Ein gemeinsamer Nenner war bisher nicht erkennbar. Ein Team um Michael Fox vom Center for Brain Circuit Therapeutics am Brigham and Women's Hospital in Boston vermutet, dass die Erklärung weniger in den zerstörten Hirnzentren zu suchen ist, als in den veränderten Nervenverbindungen zwischen ihnen.
Die Forscher konnten bei ihren Untersuchungen auf Erkenntnisse zurückgreifen, die in den vergangenen Jahren im „Humane Connectome Project“ gewonnen wurden. Sie analysierten die Fälle von 129 langjährigen Rauchern, die einen Schlaganfall erlitten hatten.
Darunter waren 34 Patienten, die nach dem Schlaganfall von ihrer Nikotinsucht befreit waren. Das Team entdeckte ein „addiction remission network“. Es war gekennzeichnet durch eine positive Konnektivität mit dem dorsalen Gyrus cinguli, dem lateralen präfrontalen Cortex und der Inselrinde. Eine negative Konnektivität bestand mit dem medialen präfrontalen Cortex und dem Temporallappen.
Die Forscher konnten die Ergebnisse an zwei Patientenkohorten verifizieren. Interessanterweise wiesen in einer weiteren Kohorte Patienten, die nach einem Schlaganfall von einer Alkoholsucht befreit waren, dasselbe „addiction remission network“ auf. Es könnte deshalb sein, dass die Ergebnisse auf weitere Substanzabhängigkeiten übertragbar sind.
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Die Entdeckung könnte für die Entwicklung neuer Behandlungen von Suchterkrankungen genutzt werden. Diese müsste das „addiction remission network“ in gleicher Weise beeinflussen wie ein Schlaganfall (natürlich ohne deren negative Auswirkung auf andere Hirnfunktionen). Für eine Hirnstimulation würde sich der mediale präfrontale Cortex anbieten. Dies könnte mit einer transkraniellen Magnetstimulation (TMS) erfolgen.
In den USA wurde im August 2020 ein TMS-Gerät zur Raucherentwöhnung zugelassen (Deep TMS von Brainways). Die Zielregionen sind die Inselrinde und der dorsolaterale präfrontale Cortex. In Wirklichkeit könnte jedoch in erster Linie der benachbarte mediale präfrontale Cortex stimuliert werden, vermutet Fox aufgrund seiner Ergebnisse. Auch eine noch nicht zugelassene TMS, die in einer Studie bei Alkoholkranken Craving und Alkoholkonsum gesenkt hat, könnte hier ansetzen (Biological Psychiatry 2022; 91: 1061-1069).
Die Ergebnisse der aktuellen Studie könnten die Hersteller dazu bewegen, die Zielregionen ihrer TMS neu auszurichten. Ob dies allerdings zu einer Verbesserung der Therapieergebnisse führen würde, müsste dann in klinischen Studien geprüft werden. © rme/aerzteblatt.de
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