Ausland
WTO schafft Durchbruch bei Patenten, trotzdem Kritik
Freitag, 17. Juni 2022
Genf – Die 164 Mitglieder der Welthandelsorganisation (WTO) haben sich nach langem Ringen in Genf unter anderem auf eine befristete Aufhebung von Patenten für Coronaimpfstoffe verständigt, um die Produktion in Entwicklungsländern auszuweiten. Regierungen sollen Patente von Pharmaunternehmen vorübergehend leichter umgehen können, um Menschenleben zu retten.
Der von Südafrika und Indien vorgelegte Antrag auf Aussetzung der geistigen Eigentumsrechte für Mittel gegen COVID-19 scheiterte hingegen am Widerstand der EU, der Schweiz, Großbritanniens und der USA. Zahlreiche Länder und ein Bündnis von 100 Organisationen hatten eine solche Aufhebung der Patentrechte gefordert.
Es war dennoch das erste Mal seit Jahren, dass die WTO ein Abkommen zustande brachte. Die Organisation stand kurz davor, in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Der damalige US-Präsident Donald Trump wollte austreten.
Als auch diese Konferenz zu scheitern drohte, setzte WTO-Chefin Ngozi Okonjo-Iweala vorgestern eine Verlängerung durch. „Sie reisen nicht mit leeren Händen nach Hause“, sagte die 68-Jährige bei Sonnenaufgang heute. „Die WTO hat demonstriert, dass sie in der Lage ist, auf die Herausforderungen unserer Zeit zu reagieren.“
Während die Bundesregierung sich mit dem Durchbruch am frühen Morgen zufrieden zeigte, kritisierten sowohl die Pharmaindustrie als auch Gruppen der Zivilgesellschaft die Vereinbarung.
Das Bundeswirtschaftsministerium lobte die Patentvereinbarung, bekannt als „Trips waiver“ – also Einschränkungen des Trips-Abkommens über geistiges Eigentum. Regierungen könnten damit gegen den Willen von Pharmaunternehmen etwa Zwangslizenzen für die Produktion von COVID-19-Impfstoffen erteilen, ohne den Schutz geistigen Eigentums generell infrage zu stellen, wie der deutsche Staatssekretär Udo Philipp sagte. Zwangslizenzen waren auch vorher möglich, aber sie gehen nun in Teilbereichen etwas weiter.
Der Pharmaverband IFPMA äußerte sich enttäuscht. Es sei ein gefährliches Signal an die Wissenschaft. Volle Patentrechte seien nötig, um Innovationen hervorzubringen. Ähnlich äußerte sich die deutsche Pharmaindustrie. „Hier wird das Patentrecht politisch instrumentalisiert, statt die Probleme anzugehen, die wirklich existieren“, sagte der Präsident des Verbandes Forschender Arzneimittelhersteller, Han Steutel.
Die Produktion der Coronaimpfstoffe sei nicht mehr das Problem. Vielmehr gebe es ein Überangebot. Durch Lockerungen des Patentschutzes würde höchstens noch mehr auf Halde produziert. Unternehmen investieren oft jahrelang in die Erforschung von Medikamenten und Impfstoffen. Nur ein Bruchteil ist erfolgreich. Mit den Produkten wollen die Unternehmen dann über Lizenzschutz Geld verdienen.
Organisationen wie die People's Vaccine Alliance oder Oxfam kritisierten die Vereinbarung dagegen als wirkungslos, auch weil sie nur Impfstoffe und keine Medikamente und Diagnostika umfasst. Von der ursprünglichen Forderung nach Aufhebung der Patente sei durch viele Auflagen wenig übrig geblieben.
„Es ist beschämend, dass die WTO-Mitglieder dem Versuch, eine strauchelnde Institution und obszöne Unternehmensgewinne zu retten, Vorrang vor der Rettung von Menschenleben gaben“, meinte Melinda St. Louis von Public Citizen.
Besonders die EU habe eine echte Aufhebung von Patentrechten blockiert. Auch Ärzte ohne Grenzen sehen wenig Nutzen: „Die Maßnahmen werden weder gegen Pharmamonopole vorgehen noch einen erschwinglichen Zugang zu lebensrettenden medizinischen Hilfsmitteln gewährleisten.“
Amnesty International sprach von einem „faulen Kompromiss“, der gerade nicht dafür sorge, dass auch Menschen im Globalen Süden gleichberechtigt Zugang zu lebensrettenden Medikamenten und Impfstoffen gegen COVID-19 erhielten. „Die Bundesregierung und andere reiche Länder mit einer großen Pharmaindustrie haben verhindert, dass ein Zeichen für globale Solidarität gesetzt wird.“
Der vorliegende Kompromiss gewähre lediglich wenige punktuelle Erleichterungen bei ohnehin schon bestehenden Möglichkeiten zur Patentaussetzung und schränke außerdem die Zahl der Länder, die davon profitieren können, ein. © dpa/afp/kna/aerzteblatt.de

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