Politik
„Wir müssen das Thema Einsamkeit besprechbar machen“
Freitag, 17. Juni 2022
Berlin – An Einsamkeit leiden vor allem jüngere Erwachsene und Menschen über 80 Jahren überdurchschnittlich häufig. Betroffen sind rund acht Millionen Menschen in Deutschland, also jeder zehnte. Die Auswirkungen von Einsamkeit auf die psychische und die körperliche Gesundheit sind hoch; das Sterberisiko ist deutlich erhöht.
Um Einsamkeit entgegenzuwirken, will das Bundesfamilienministerium jetzt zusammen mit dem „Kompetenznetz Einsamkeit“ eine Strategie gegen diesen Zustand entwickeln, der in der Coronapandemie nochmals zugenommen hat.
Mazda Adli ist Psychiater und Stressforscher und befasst sich unter anderem mit dem Thema Einsamkeit. Er ist Chefarzt der Fliedner Klinik Berlin und Leiter des Forschungsbereichs Affektive Störungen der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, CCM, an der Charité – Universitätsmedizin Berlin.
5 Fragen an Mazda Adli ist Psychiater und Stressforscher
DÄ: Welche gesundheitlichen Auswirkungen hat Einsamkeit auf den Menschen?
Mazda Adli: Einsamkeit ist ein Stressor, eine Form von sozialem Stress. Das kann zu verschiedenen psychischen wie auch physischen Erkrankungen führen. Dazu gehören im psychiatrischen Bereich zum Beispiel Depression und Angsterkrankungen. Wir sehen während der Pandemie aber auch eine Zunahme von Suchterkrankungen und Essstörungen, bei denen soziale Isolation und Einsamkeit eine zumindest wegbereitende Rolle spielen.
Im somatischen Bereich kommt es zu mehr Herz-Kreislauf-Erkrankungen, zu Stoffwechselstörungen und zu immunologischen Störungen. Es gibt beispielsweise Studien, die zeigen, dass Menschen, die unter Einsamkeit leiden, sich eher mit einem Erkältungsvirus anstecken und dass auf der der anderen Seite junge Erwachsene, die sozial gut eingebunden sind, eine stärkere Antikörperbildung nach Grippeimpfung haben.
DÄ: Gibt es Wechselwirkungen zwischen psychischen Erkrankungen und Einsamkeit?
Adli: Menschen mit psychischen Erkrankungen haben ein größeres Einsamkeitsrisiko. Sie neigen eher zu sozialem Rückzug und leider eher unter mangelnder Teilhabe. Und genau das haben psychisch erkrankte Menschen während der Coronapandemie besonders deutlich zu spüren bekommen.
Gleichzeitig gilt: Bei psychisch Erkrankten ist die soziale Einbindung ein wichtiger Schutzfaktor, der die Prognose verbessert. Wir haben in der täglichen Arbeit während der Pandemie Menschen gesehen, die nach zum Teil jahrelanger Stabilität wieder dekompensiert sind, weil wesentliche Unterstützungsstrukturen weggebrochen sind: Therapiestunden sind ausgefallen, Gruppenangebote wurden eingestellt, soziale Aktivitäten fielen weg, Freundeskreise sind weggebrochen.
Ich sehe in der Klinik deutlich mehr Einsamkeit als Thema in den Anamnesen. Sie tritt als Belastungsfaktor im Alltag der Menschen sichtbarer in Erscheinung.
DÄ: Das Bundesfamilienministerium und das Kompetenznetz Einsamkeit wollen für das Thema sensibilisieren und auch Präventionsmaßnahmen evaluieren. Welche Vorschläge haben Sie aus ärztlicher Perspektive, um Einsamkeit entgegen zu wirken?
Adli: Für mich als Psychiater ist zurzeit das wichtigste, das Thema besprechbar zu machen. Es gibt kaum ein Thema, das schambehafteter und tabuisierter ist als Einsamkeit. Es gibt kaum etwas, das Menschen beim Arzt schwerer über die Lippen kommt, als zu sagen ‚ich bin einsam‘. Wenn wir Einsamkeit aus der Tabuzone holen, nehmen wir dem Thema den giftigen Stachel und das ist dringend notwendig.
DÄ: Was könnten Ärzte und Psychotherapeuten tun, um ihren Patienten zu erleichtern, ihre Einsamkeit anzusprechen?
Adli: Die Frage nach Einsamkeit könnte zum Beispiel Eingang in den Anamnesebogen finden, der oft im Wartezimmer ausgehändigt wird. Bei Patientinnen und Patienten, bei denen wir Einsamkeit als Belastungsfaktor vermuten, sollten wir konkret danach fragen. Wir Ärzte haben manchmal die Angst, damit „ein Fass aufzumachen“ oder gleich Lösungen parat haben zu müssen.
Daher scheuen wir uns oft selbst, das Thema anzusprechen. Wir unterliegen da sozusagen dem gleichen Tabu, aber nur von der anderen Seite. Aber diese Angst würde ich uns gerne nehmen. Es ist schon allein sehr viel Wert, das Thema Einsamkeit anzusprechen und damit zusammenhängende Gefühle zu validieren. Allein das kann sehr entlastend für den Patienten sein.
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Wir Ärzte sollten uns im Klaren sein, dass Einsamkeit verbreiteter ist als man vielleicht annimmt. 15 Prozent und mehr sind es in bestimmten Altersgruppen, darunter vor allem jüngere Erwachsene und alte Menschen ab 80. Auch Singles und Alleinlebende sind oft betroffen.
Mein Tipp für eine kleine „Erste Hilfe“ mit denen wir Betroffene unterstützen können: Einen Flyer zusammenstellen mit ein paar Kontaktadressen für Anlaufstellen, wie beispielsweise Vereinen, Kirchengemeinden, Chorangeboten, etc. Das kann regional natürlich sehr unterschiedlich sein. Es gibt auch Angebote, wie Silbernetz, eine bundesweite Telefonhotline gegen Einsamkeit für ältere Menschen.
DÄ: Eines Ihrer Forschungsgebiete ist das Thema Stadtarchitektur und Psyche. Was können denn Städteplaner tun, um Einsamkeit vorzubeugen?
Adli: Da kann man viel machen. Wie Städte aussehen, beeinflusst unser Verhalten und auch, ob wir uns leichter damit tun, andere Menschen zu treffen und mit ihnen in Kontakt zu kommen - oder eben nicht. Wir brauchen öffentliche nicht-kommerzielle Plätze, die zum Verweilen einladen: Plätze, kleine Parks, breite Bürgersteige, frei verschiebliche Sitzgelegenheiten, die dafür sorgen, dass Menschen Zeit zusammen verbringen.
Das fördert den Kontakt und wirkt sozialer Isolation entgegen. Man kann durch Gestaltung von Straßen und Nachbarschaften stimulieren, dass die Menschen vor ihre Haustüre treten. Denn diese Zeit wirkt eher Einsamkeit entgegen, als die Zeit, die man dahinter verbringt.
Darüber hinaus sind Kulturräume ein wichtiger Bereich in diesem Zusammenhang: Theater, Museen, Galerien, Bibliotheken oder Kulturzentren. All dies sind Orte, die Menschen miteinander in Verbindung bringen und die dadurch auch einen wichtigen Public-Health-Auftrag haben. © PB/aerzteblatt.de

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