Politik
Digitalisierung im Gesundheitswesen dringend weiterdenken
Freitag, 17. Juni 2022
Berlin – Beim Thema Digitalisierung im Gesundheitswesen sei deutlich mehr Tempo gefordert, so das Gros der Diskutanten beim heutigen Rechtssymposium des Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) zum Thema Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung im Gesundheitswesen.
Mehr als 240 Kilogramm Papier hätten die Deutschen im Jahr 2018 pro Kopf verbraucht und seien damit im internationalen Vergleich Spitzenreiter, erklärte der Arzt und Rechtsanwalt, Christian Dierks. Davon seien mehr als die Hälfte Verpackungen zuzuordnen, an zweiter Stelle kämen Dokumente, die auch im Gesundheitswesen immer noch zahlreich eingesetzt würden. Dies verdeutliche den dringenden Handlungsbedarf.
Digitalisierung dürfe allerdings niemals ein Selbstzweck sein, sondern habe im Gesundheitswesen nur einen Zweck und das sei das Patientenwohl, betonte Ferdinand Gerlach, Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR).
Gerlach nannte einige Beispiele, die verdeutlichen sollen, wie wichtig die weitere Digitalisierung für das Gesundheitswesen sei, etwa bei der Krankenhausaufnahme. Dort sei der Patient im besten Fall der Überbringer seiner Daten aufgrund von mitgebrachten Medikamenten, Arztbriefen oder detaillierte Einweisungen. Oftmals wüssten die Patienten aber nicht genau, welche Arzneimittel sie einnehmen oder ob sie etwa eine Penicillin-Allergie haben. Das könne für die nachfolgende Behandlung im Krankenhaus sehr gefährlich werden, so Gerlach.
Auch beim Thema Chargenrückrufe bei Arzneimitteln könnten digitale Anwendungen einen wichtigen Mehrwert bieten. So erhalten Apotheken und Großhändler durch Chargenüberprüfungen oder durch Rote-Hand-Briefe Informationen über einzelne Rückrufe oder neu erkannte Arzneimittelrisiken. Die entsprechenden Medikamente werden dann aus dem Regal genommen. Diese Information gelangt allerdings nicht bis an die Patienten, bemängelte Gerlach. „Ausgelieferte Autos können hierzulande zurückgerufen werden, ausgelieferte Medikamente jedoch nicht“, kritisierte er. Auch dieses Beispiel zeige: „Daten teilen, heißt besser heilen“.
Schnelle Opt-Out-Lösung bei ePA
Bei der elektronischen Patientenakte (ePA) hänge Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern ungefähr 15 Jahre hinterher, so Gerlach. Tech-Unternehmen wie Amazon, Apple oder Alphabet würden derzeit hunderte von Milliarden Dollar in Digital Health investieren. „Wenn wir jetzt nicht komplett abgehängt werden wollen, müssen wir jetzt die Weichen stellen und handeln“, betonte Gerlach.
Er pocht auf eine schnelle Umsetzung der Opt-Out-Lösung bei der ePA und eine Verschattungsmöglichkeit sensibler Daten anstelle diese unwiederbringlich zu löschen. Ein Opt-Out-Verfahren sieht die automatische Erstellung der Akten für alle Bürger in Deutschland vor. Wer keine möchte, kann diesem Schritt aktiv widersprechen. Die Ampelregierung hat sich bereits in ihrem Koalitionsvertrag darauf geeinigt, ein Opt-Out-Verfahren bei der ePA einzuführen.
Susanne Ozegowski, Abteilungsleiterin für Digitalisierung im Bundesgesundheitsministerium (BMG), möchte die Überführung zum Opt-Out-Verfahren schnell ermöglichen. Heute würden zwar nur 500.000 Menschen in Deutschland (0,5 Prozent der Bevölkerung) die digitale Akte nutzen, durch das Opt-Out-Verfahren würden die Nutzungszahlen aber steigen, lautete ihre Prognose.
Auch Dierks sieht die ePA als zentralen Anker der Digitalisierung im Gesundheitswesen. Er finde zwar den Namen nicht glücklich gewählt. Besser sei in seinen Augen der Titel „elektronische Bürgerakte“ oder schlicht „Gesundheitsakte“, jedoch finde er, dass sich jeder mit seiner oder ihrer ePA beschäftigen solle. Wer das künftig nicht selbst machen wolle, könnte das in der Zukunft auch einem neuen Berufsbild, einem „Personal Health Data Manager“, etwa für 19 Euro monatlich übergeben, schlägt Dierks vor.
Gerlach plädiert außerdem für eine feste Verankerung des Anrechts auf optimale Verarbeitung eigener Daten zum Schutz von Leben und Gesundheit. Statt „unzureichendem Datenschutz alter Schule“ (Datensparsamkeit, enge Zweckbindung), benötige es künftig wirksame technische Datensicherheitskonzepte und auch verschärfte Strafen bei Stigmatisierung, Diskriminierung oder Benachteiligung.
„Vergessen Sie zudem den Begriff Datenspende“, so Gerlach. Dieser sei mit dem Teilen von selektiven oder einmaligen Daten eng verbunden, was es aber brauche ist eine vollständige und automatisierte Echtheitssituation. Zudem empfehlen Gerlach als auch Dierks angesichts der 18 Datenschutzbehörden in Deutschland eine bundeseinheitliche Anwendung des Datenschutzrechts.
Zögerlicher äußerte sich hier allerdings Susanne Möhring, stellvertretende Referatsleiterin beim Bundesbeauftragten für den Datenschutz und der Informationsfreiheit (BfDI). In ihren Augen stünde das geltende Datenschutzrecht den Digitalisierungszielen nicht entgegen und die aktuell geplanten Projekte sollten erst einmal anlaufen und beurteilt werden, bevor darüber hinaus noch weitere Digitalisierungsprojekte entwickelt werden.
Digitalstrategie als partizipativer Prozess
Um die einzelnen Bausteine der Digitalisierung, wie die ePA, das elektronische Rezept (E-Rezept) oder auch die digitalen Gesundheitsanwendungen nun besser zusammenzubringen, benötige es nun eine umfassende Digitalstrategie, erklärte Ozegowski.
„Wir wollen diesen Strategieprozess einmal durchlaufen, um ein Bild für die weitere Zukunft zu haben, wie die einzelnen Puzzleteile ineinanderwirken können“, sagte sie. Dabei werde das BMG zunächst intern die Strategieerarbeitung vorbereiten.
Ab dem Spätsommer sei die Erarbeitung der Strategie als partizipativer Prozess gedacht, bei dem sich alle Akteure im Gesundheitswesen beteiligen sollen, betonte Ozegowski, die seit 1. April ihren Posten im BMG innehat. Ihr Chef, Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), hatte die Strategie bereits auf der Digitalisierungskonferenz DMEA im April angekündigt.
Die Strategie soll laut Ozegowski etwa berücksichtigen, welche Institutionen an welcher Stelle benötigt werden, um das Zusammenspiel der einzelnen Anwendungen besser zu koordinieren und zu ermöglichen. Auch müsse genau geklärt werden, in welchem Bereich Wettbewerb benötigt werde und wo es einen Standard für alle brauche.
Hinsichtlich der digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) finde Ozegowski es richtig, dass diese vor zwei Jahren gestartet sind, auch in dem Wissen, dass noch nicht alles perfekt ausgerichtet sei. Allerdings betonte sie, dass die Gesundheits-Apps nun schnell in die Versorgungsabläufe integriert werden müssen, damit Ärzte auch wissen, inwiefern die Apps den Patienten einen Nutzen bieten und wie das in die Behandlung besser eingebaut werden könne. Das müsse künftig auch stärker im Zusammenhang mit der EPA gedacht werden, findet die Abteilungsleiterin im BMG.
Tatsächlich soll ein Datentransfer aus DiGA in die ePA neben der Erweiterung auf Leistungen von Hebammen und Physiotherapeuten sowie Zertifikaten für Datenschutz und Informationssicherheit einer der wichtigsten Schritte bei der Weiterentwicklung des DiGA-Konzepts sein, erklärte Wiebke Löbker.
Die Leiterin der Stabsstelle Innovationsbüro beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) und persönliche Referentin des Präsidenten Karl Broich wies den Vorwurf mangelnder Evidenz zum Nutzen von DiGA zurück. Von den 135 Anträgen auf Listung hätten 105 randomisiert-kontrollierte Studien eingereicht, 25 hätten auf andere Evidenzformen wie Befragungen, intraindividuelle Vergleiche oder retrospektive vergleichende Studie zurückgegriffen.
Die Zahlen würden belegen, wie differenziert das Bewertungsverfahren ist: Bei 135 Anträgen sind derzeit 31 DiGA gelistet – zwölf davon dauerhaft und 19 vorläufig zur Erprobung. Zwölf Anträge habe das BfArM abgelehnt, beispielsweise wegen unvollständiger Unterlagen, mangelnder Evidenz oder Problemen beim Datenschutz. Zwei DiGA sind jüngst aus dem Verzeichnis geflogen, 75 Anträge wurden von den Herstellern zurückgezogen und 15 befinden sich noch in der Prüfung.
„Es ist nicht das zu 100 Prozent perfekte System“, räumte Löbker ein. „Aber hätten wir auf das 100 Prozent perfekte System gewartet, hätte niemand von uns jemals eine echte DiGA zu Gesicht bekommen.“
Auch der G-BA selbst könnte zukünftig digitaler werden, findet Dierks. Ein sogenannter „Thinktank-G-BA“ könnte sich vor allem dem Anwendungsbereich Versorgung zuwenden, die digitale Transformation innerhalb des G-BA beschleunigen und mittels bestimmter Spezialisten auch die interne Datenverarbeitung etwa mithilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) vorantreiben, so Dierks. Zudem empfiehlt er ein digitales G-BA-Portal, in dem die gefassten Beschlüsse und Richtlinie in einer Datenbank liegen und etwa strukturierte Suchen ermöglicht werden könnten. © cmk/lau/aerzteblatt.de

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