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Gutachten: Kassen behindern operative Adipositas­behandlungen

Mittwoch, 22. Juni 2022

/picture alliance, Chinafotopress

Berlin – Schwere Adipositas wird in Deutschland zu selten und zu spät operativ behandelt. Zu diesem Urteil kommt ein Gutachten, das der Bundesverband Medizintechnologie (BVMed) in Auftrag gegeben hat. Schuld seien die Krankenkassen, heißt es darin.

Leistungen der bariatrischen Chirurgie, die mit schwerem Übergewicht einhergehen, werden hierzulande im internationalen Vergleich selten durchgeführt: 2020 waren es der Analyse zufolge 19.088 Operationen, von denen 98 Prozent auf die am weitesten verbreite­ten Verfahren Magenbypass und der Schlauch­magen entfie­len.

Dem Gutachten des Juraprofessors Stefan Huster von der Ruhr-Universität Bochum zufolge liegt die Opera­ti­onshäufigkeit bei Vorliegen ei­ner morbiden Adipositas in Deutschland bei 27,5 pro 100.000 Erwachsene. Das ist nach Daten des Statis­tischen Bundesamtes nur ein Teil des Aufkommens in unseren Nachbar­ländern: In Frankreich sind es demnach 76,9 Operationen pro 100.000 Erwachsene, in Belgien 141,2 und in den Nieder­landen 91,8.

Der Grund ist aus Sicht von Huster und seinen Co-Autoren klar: In diesen Ländern werden therapeutische Entscheidungen auf Grundlage aktueller medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse getroffen, während in Deutschland die Kranken­kassen operative Eingriffe bei schwerer Adipositas unter Verweis auf eine veraltete Rechtslage immer noch nicht als Regelleistung akzeptieren und unter Geneh­migungsvorbehalt stellen.

Unter anderem gehe das auf das im Jahr 2003 vom Bundessozialgericht aufgestellte „Ultima-Ratio“-Prinzip zurück: Es hatte in einer Entscheidung verlangt, dass eine Magenbandoperation nur als letztes Mittel ein­ge­setzt wird. Allerdings bezog sich der Senat dabei laut Gutachten auf die im Zeitpunkt der Entscheidung gel­tenden Leit­linien der Deutschen Adipositas-Ge­sellschaft mit Stand von 1998 und die Leitlinie des Instituts für Gesund­heitsökonomie und Klinische Epidemiologie der Universität Köln, ebenfalls von 1998.

Veraltete Leitlinien als Grundlage

„Der sogenannte Ultima-Ratio-Grundsatz ist daher ausdrücklich keine durch die Recht­sprechung entwickelte Voraussetzung, sondern beruht auf der Anwendung der damaligen Leitli­nien“, schreiben die Gutachter. „Inso­weit ist klarzustellen, dass die aktu­elle Rechtsprechung insoweit vielfach nicht präzise formuliert ist.“

Die Leitlinien hätten sich in den vergangenen 19 Jahren nämlich grundlegend geändert und nicht mehr von einem Ultima-­Ratio-Grundsatz aus, sondern vielmehr vom „Grundsatz der dynamischen Therapieer­schöpfung“. Es stehe derzeit eine Aktualisierung an, bei der die insoweit geltenden Anforde­rungen im Rahmen einer Revi­sion der Leitlinien voraussichtlich präziser gefasst und an die aktuel­leren internationalen Leitlinien ange­gli­chen werden.

Die aktuelle Studienlage würde zeigen, dass der zu erwartende Behandlungs­erfolg bariatrischer Operatio­nen bei hochgradiger Adipositas den konservativen Behandlungsmöglichkeiten vielfach überlegen sei. Die Adipo­sitaschirurgie stelle die effektivste Behandlungsmethode mit der breitesten Evidenzlage dar. Die Leit­linien würden dem angemessen Rechnung tragen.

Spätestens ab einem Body Mass Index (BMI) von über 50 kg/m² bestehe eine Primärindikation zu einem adi­po­sitaschirurgischen Eingriff. „Starr geregelte Anforderungen zur Erschöp­fung konservativer Therapien sind daher ver­fehlt“, kritisieren die Gutachter.

Das sei entscheidend für das Recht schwer an Adipositas erkrankter Menschen, eine chirurgische Behandlung zu erhalten. „Aus juristischer Perspektive kommt es für das Bestehen des Leistungsanspruches gesetzlich ver­sicherter Patienten auf den (vorstehend zusam­mengefassten) Stand der medizinwissenschaftli­chen Erkennt­nisse an“, heißt es im Gutachten.

Nicht nur gebe es keine Zweifel mehr daran, dass die Adipositas eine „Krankheit im krankenversicherungs­recht­lichen Sinne“ sei. Auch häufig vorgebrachte Einwände gegen operative Eingriffe am Magen seien nicht zutreffend.

Denn die Rechtsprechung verlange eine besondere Rechtfertigung für nicht kau­sale Therapien, also für Ein­griffe in gesunde Organe. „Hier spricht viel dafür, den Magen­darmtrakt als integraler Teil des für die Auf­recht­erhaltung des gesteigerten krankhaften Körpergewichts verantwortlichen neuro-endokrinen Regulations­ap­parates nicht als ge­sund anzusehen und daher nicht von beson­deren Rechtfertigungsanforderungen auszu­gehen“, schreiben die Autoren.

Genau solche Rechtfertigungsanforderungen würden die Krankenkassen jedoch regelmäßig stellen: Es habe sich etabliert, dass Patienten vor Durchführung der bariatrischen Behandlungen die Leistungs­gewährung bei ihrer gesetzlichen Krankenversi­cherung beantragen müssen.

Diese Anträge seien in der Vergangenheit überwiegend abgelehnt worden, wobei sich erhebliche regionale Unterschiede in der Bewilligungspraxis feststellen ließen. So schwanke die Rate zwischen 32,4 Operationen pro 100.000 Erwachsene Hamburg/Schleswig-Holstein und 8,9 in Rheinland-Pfalz.

Das werde besonders häufig von den Versicherten angefochten. „Insgesamt ent­steht der Eindruck, dass es sich bei Leistungen der bariatrischen Chirurgie um eine vergleichs­weise streitanfällige Behandlungsmethode han­delt“, schlussfolgern die Autoren.

Zahlreiche Gerichtsentscheidungen würden dabei jedoch den Leistungsanspruch der Versicherten bestätigen. Dass dennoch an den Genehmigungsvorbehalten festgehalten werde, schaffe den „Eindruck einer tendenziell restrik­tiven Haltung der gesetzlichen Krankenversiche­rungen beziehungsweise der die Fälle begutachtende Medi­zinischen Dienste der Krankenversicherungen“.

Dafür spreche auch, dass die Sozialgerichte zuneh­mend auf mündliche Verhandlungen verzichten und im Wege des Erlasses eines Gerichtsbeschei­des zugunsten der Versicherten entscheiden würden. Patienten, Gerichten und nicht zuletzt den Kassen selbst könne daher großer Aufwand erspart bleiben.

Der GKV-Spitzenverband wollte sich auf Nachfrage nicht zu den Vorwürfen äußern. „Gutachten Dritter kommentieren wir nach Möglichkeit nicht“, hieß es. © lau/aerzteblatt.de

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