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Ärzteschaft

Psychosoziale Notfallversorgung darf nicht vom Engagement Einzelner abhängen

Donnerstag, 23. Juni 2022

/Chinnapong, stock.adobe.com

Berlin – Die psychosoziale Erstversorgung für Betroffene nach Naturkatastrophen, Anschlägen und Großscha­denslagen ist in Deutschland nach Ansicht von Experten der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung (DPtV) nicht gut organisiert.

„Psychosoziale Hilfe außerhalb von Großstädten ist meist ehrenamtlich oder hängt vom persönlichen Engage­ment einzelner Ort ab. Bestimmte Aufgaben überfordern aber vielfach diejenigen, die Hilfe leisten wollen“, sagte Christoph Kröger, Professor für klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Hildesheim, bei dem DPtV-Symposium „Notfall und Trauma“ gestern in Berlin.

Zudem seien Psychotherapeuten nicht in das multiprofessionelle Netzwerk der Psychosozialen Notfallversor­gung eingebunden und könnten ihre Expertise einbringen, kritisierte Kröger. Sie würden zwar häufig Wochen nach dem Ereignis zur Behandlung kontaktiert.

Doch insbesondere wenn Menschen gewaltsam getötet wurden, Hinterbliebene lange Zeit vermisst blieben und wenn Kinder und Jugendliche betroffen seien, „sollte auf psychothe­rapeutische Expertise auch in der Akutsituation und den unmittelbaren Tagen danach zurückgegriffen werden“, forderte der Lehrstuhlinhaber.

International evaluierter „screen and treat“-Ansatz auch in Deutschland

Nach einem Großschadensereignis sollte, Kröger zufolge, in enger Abstimmung mit Polizei und den Institutio­nen des Zivilschutzes ein mehrstufiges diagnostisches Vorgehen implementiert werden. Ein solcher interna­tio­nal evaluierter Screen-And-Treat-Ansatz umfasse ein internetgestützes Screening per Fragebogen, eine psy­chologische Diagnostik und Empfehlung für diejenigen, die Risikofaktoren aufweisen und belastet sind.

Diejenigen, die ein geringes Risiko für eine Folgestörung aufweisen, sollten mit einem systematischen Monito­ring beobachtet werden. Zeitversetzt sollte dann für diejenigen mit Bedarf eine Behandlung mit traumafokus­sierten Methoden stattfinden.

„Bisher gibt es keine Studie, die dieses international verbreitete Vorgehen in Deutschland evaluiert hat“, be­dauerte der Experte. Viele Hilfebedürftige nach Großschadensereignissen würden einfach verschwinden. Voraussetzung für den Screen-And-Treat-Ansatz sei eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit allen Akteuren der Psychosozialen Notfallversorgung – auch mit Psychotherapeuten. Gemeinsame Schulungen und Simulationen mit Patienten könnten die Vernetzung fördern.

Der Staat hat eine Daseinsfürsorgepflicht

„Grundsätzlich brauchen wir eine Expertenkommission, ausgehend vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), um das internationale Wissen auch in Deutschland umzusetzen“, forderte Kröger. Das Bundesamt müsse viel aktiver werden, schließlich habe der Staat eine Daseinsfürsorgepflicht.

„Wichtig ist, dass die klinisch-therapeutischen Aspekte und die organisatorischen Bedingungen bei großen Unglücken in einem Zusammenhang gesehen werden“, sagte die Psychotherapeutin Renate Gronvold-Bugge, die die norwegische Regierung nach dem Massaker 2011 auf der Insel Utoya beratenen hat.

Der Rechtsextremist Anders Behring Breivik erschoss damals in knapp anderthalb Stunden 69 meist junge Menschen, die an einem traditionellen Sommercamp der Arbeiterjugend teilnahmen. Zuvor hatte er im Osloer Regierungsviertel acht Menschen mit einer Bombe getötet.

Den Betroffenen muss proaktiv Hilfe angeboten werden

„Die psychosoziale Versorgung der Betroffenen und Angehörigen muss vorbereitet sein“, betonte Gronvold-Bugge. Die Betroffenen müssten in einen „Rahmen der Geborgenheit“ eingebettet sein. Es dürfe nicht von den einzelnen Betroffenen abhängig sein, ob sie Hilfe finden oder nicht. Sie müsse ihnen proaktiv angeboten werden, auch in der Zeit nach den Geschehnissen.

„In Norwegen haben wir zudem gute Erfahrungen mit dem kollektiven Zusammenkommen der Angehörigen gemacht, die sich Vorlesungen anhören und in Gruppen austauschen“, sagte die Psychotherapeutin.

Das Gefühl der kollektiven Verbundenheit sei auch begünstigt worden durch die Anwesenheit des norwegi­schen Premierministers von Anfang an. „Ich verstehe, dass es in Deutschland – im Gegensatz zu unserem klei­nen Land – eine Herausforderung ist, eine Koordination zwischen Bund und Ländern zu etablieren, um solche symbolischen Schritte zu ermöglichen“, sagte Gronvold-Bugge. Doch die öffentliche Anerkennung des individuellen Leids sei sehr wichtig.

„Wir sind auf der Suche nach Lösungen, wie man psychotherapeutische Hilfe nach Großscha­dens­ereignissen vernetzt anbieten kann“, sagte der Bundesvorsitzende der DPtV, Gebhard Hentschel. Psychotherapeuten würden beispielsweise nach der Flutkatastrophe vor einem Jahr im Ahrtal und Erftkreis angefragt. „Sie stoßen aufgrund der ohnehin durch die Coronapandemie angespannte Versorgungssituation mit Einzeltherapie aber an ihre Grenzen“, sagte Hentschel.

Zunächst sei für die Erstversorgung und Stabilisierung der Betroffenen und Angehörigen eine frühe Vernetzung mit den Ersthelfern vor Ort notwendig. Bestehe eine akute hohe Nachfrage nach Therapie, müssten Instrumen­te wie Sonderbedarfszulassungen und Ermächtigungen von Vertragspsychotherapeuten durch die Kassen­ärzt­lichen Vereinigungen stärker genutzt werden.

Weil die psychotraumatologisch fortgebildeten Psychotherapeutinnen Daniela Lempertz und Susanne Leutner wussten, wie wichtig akute psychosoziale und therapeutische Hilfe für die Betroffenen ist, gründeten sie un­mittelbar nach der Flutkatastrophe an Ahrtal und Erft das Netzwerk „Soforthilfe Psyche“.

Nach einem Aufruf der beiden engagierten Frauen spendeten Psychotherapeuten aus NRW und ganz Deutschland zusätzliche Therapieplätze für die Betroffenen der Flut. Diese ehrenamtlichen Strukturen haben seit Juli 2021 bis heute 380 Hilfesuchende vermitteln können. © PB/aerzteblatt.de

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