Politik
Finanzlücke im Gesundheitswesen: Wo kann man noch sparen?
Donnerstag, 23. Juni 2022
Berlin – Schuld ist nicht Corona: Die Finanzierungslücke im Gesundheitswesen ist durch strukturelle Defizite entstanden, die sobald wie möglich behoben werden müssen. Wie, darüber gehen die Meinungen zwischen Ärzteschaft und Kostenträgern nur bedingt auseinander. Doch die Politik stochert noch im Dunkeln, weil der Bundesgesundheitsminister seit Monaten einen Gesetzentwurf schuldig bleibt.
Ein Blick auf die Zahlen zeigt es: Die „primäre Unterdeckung“ des Gesundheitsfonds, also die Differenz aus den zuweisungsrelevanten Ausgaben der Kassen und den Beitragseinnahmen des Gesundheitsfonds ohne Einkommensausgleich, läuft seit nunmehr fünf Jahren aus dem Ruder. Das erklärte der Gesundheitsökonom Jürgen Wasem von der Universität Duisburg-Essen gestern beim Hauptstadtkongress in Berlin.
2015 standen demnach Ausgaben von 209,1 Milliarden Euro noch Einnahmen von 184,6 Milliarden Euro gegenüber – eine Unterdeckung von 24,5 Milliarden Euro. In den Folgejahren wuchs die Differenz bei steigenden Ausgaben moderat: 2018 betrug das Verhältnis 234,4 zu 208,7 Milliarden Euro, eine Lücke von 25,7 Prozent.
Danach ist die Kurve „abgedriftet“, wie Wasem es ausdrückte: Von 30 Milliarden Euro 2019 auf 35,5 im Folgejahr und 42,9 Milliarden Euro im Jahr 2021. Dieses Jahr beträgt die primäre Unterdeckung demnach 50,7 Milliarden Euro: 284 Milliarden Euro Ausgaben stehen 233,3 Milliarden Euro an Einnahmen gegenüber.
Schon dass die Lücke bereits 2019 aus dem Ruder zu laufen begann, verrät es: „Es ist nicht Corona, so viel können wir sagen“, erklärte Wasem. Vielmehr handele es sich um ein strukturell gewachsenes Defizit. „Es ist hauptsächlich die expansive Ausgabenpolitik der vorherigen Koalition. Wobei man sagen muss, dass das teils sehr gut angelegtes Geld ist.“
Sonder-Bundeszuschuss nur Zwischenlösung
Doch was ist nun zu tun? Zuallererst schiebt der Bund Geld nach, anders wird es kurzfristig nicht gehen. 14 Milliarden Euro beträgt der Sonderbundeszuschuss. Wasems Berechnungen zufolge müsste der Zuschuss dann unter der Wachstumsannahme von jährlich drei Prozent bei den beitragspflichtigen Einnahmen und vier Prozent bei den Ausgaben um vier bis fünf Milliarden steigen – und zwar jedes einzelne Jahr.
2023 läge er demnach schon bei 19,3 Milliarden und stiege bis 2027 auf 36,6 Milliarden Euro. „Es ist klar, dass das nicht realistisch ist“, betonte Wasem. Kurzfristig werde zwar kein Weg daran vorbeiführen, auf ein wachsendes Defizit mit einem wachsenden Sonderbundeszuschuss zu reagieren. „Ich wüsste kein Thema, das für 2023 oder 2024 kurzfristig Geld mobilisiert.“
Dennoch und gerade deshalb müsse die Politik sich nun Gedanken machen, wie der steigende Finanzbedarf des Gesundheitswesens künftig gedeckt werden kann. „Dieser Adhocismus, bei dem die Politik kurzfristig entscheidet, wie viel Geld sie in den Bundeszuschuss steckt, muss zugunsten einer langfristigen Planung aufhören“, forderte Wasem mit Nachdruck.
Diejenigen Reformvorhaben, die Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) derzeit anstoßen will – insbesondere die geplante Krankenhausstrukturreform – würden jedenfalls keine kurzfristige Entlastung bringen, sondern könnten im Gegenteil noch zusätzliche Kosten verursachen.
„Das liegt bleiern über dem Koalitionsvertrag, wie ein Preisschild“, kommentierte Kai Senf, Geschäftsführer Politik und Unternehmensentwicklung im AOK-Bundesverband. Es stelle sich deshalb die Frage, wie die geplanten Reformvorhaben finanziert werden können. In den Köpfen halte sich nach wie vor die falsche Vorstellung, dass es sich um kurzfristige Finanzprobleme aufgrund der Pandemie handele, tatsächlich seien es aber systemische Defizite.
Höhere Beitragssätze, weniger Krankenhäuser
So sei beispielsweise die Bemessungsgrundlage für die Beitragserstattung von Hartz-IV-Beziehenden seit jeher viel zu niedrig angelegt. „Da rechnet sich der Bund auf Kosten der GKV gesund“, kritisierte Senf. Auch dürfe sich die Bundesregierung bei der Frage nach einer Erhöhung der Beitragssätze nicht aus der Affäre stehlen und die Krankenkassen damit alleinlassen.
„Wenn an der Beitragsschraube gedreht wird, muss die Politik den allgemeinen Beitragssatz erhöhen. Zu dieser Verantwortung muss sie stehen“, forderte er. Allerdings werde selbst das nicht ausreichen. Das Gesundheitswesen mit Zuschüssen aus der Staatskasse weiter zu stützen sei dabei auf Dauer nicht der richtige Weg: „Wir wollen nicht mehr, sondern weniger Staat im Gesundheitswesen.“ Die Politik werde sich deshalb Gedanken über nachhaltige Finanzierungsquellen machen müssen.
Und über Einsparungen, beispielsweise bei Krankenhäusern. „Wir müssen uns bei der Krankenhausplanung irgendwann ehrlich machen. Wir werden nicht jedes Krankenhaus halten können, das ist nun mal so“, räumte der Vizepräsident der Bundesärztekammer (BÄK), Günther Matheis, ein. „Wir haben überhaupt nicht mehr die Fachkräfte, um all die vorhandenen Strukturen zu bedienen. Und das wird noch schlimmer werden.“
Auch müssten in anderen Feldern endlich Nägel mit Köpfen gemacht werden: „Wir reden seit Jahrzehnten von sektorübergreifender Versorgung“, beklagte Matheis. Es sei an der Zeit, solche Strukturen endlich zu schaffen.
Allerdings dürfe man auch das Problem der Kommerzialisierung der Medizin, vor allem durch das System der Diagnosebezogenen Fallgruppen und den wachsenden Einfluss von Kapitalgesellschaften, unangetastet lassen. Es sei ein Problem, dass Investoren die Situation ausnutzen, um Rendite zu machen. Das sei Geld, das aus dem Solidarsystem herausgezogen wird.
Ansätze gibt es also durchaus – welche davon im Bundesgesundheitsministerium (BMG) verfolgt werden, ließ sich bisher nur durch einen im März an die Öffentlichkeit gedrungenen, nicht autorisierten Referentenentwurf für ein GKV-Finanzstabilisierungsgesetz erahnen.
Seitdem ist Funkstille, sehr zum Verdruss des gesundheitspolitischen Sprechers der Unionsfraktion im Bundestag, Tino Sorge: „Wir warten seit Monaten darauf, dass hier endlich mal eine Diskussionsgrundlage kommt“, klagte er. Denn die Diskussion werde schwierig. „Wir müssen Zumutungen machen, um das System nachhaltig zu stabilisieren“, kündigte er an. „Das sind Summen, die wir nicht mit Gesichtskosmetik hinbekommen.“
Die eine Lösung gebe es nicht, es werde vielmehr auf ein Bündel an Maßnahmen ankommen, das fein austariert werden muss. Immer häufiger im Gespräch ist dabei auch eine Maßnahme, die Lauterbach von Tag 1 im Amt an immer wieder ausgeschlossen hat: Leistungskürzungen. Den konkreten Begriff vermied Oppositionspolitiker Sorge, sprach stattdessen von „Leistungsoptimierungen“. Fakt sei aber: „Da wird man eine Debatte führen müssen.“
Mehr Effizienz durch bessere Datennutzung
Weitere Einsparpotenziale müsse die Politik außerdem durch weitere Digitalgesetze heben. „Ich appelliere an die Ampel, dass sie ein Gesundheitsdatennutzungsgesetz auf den Weg bringt, und zwar dringend“, betonte Matheis. „Wir brauchen eine Datensolidarität.“ Es müsse, auch gesetzliche die Grundlage dafür geschaffen werden, dass Gesundheitsdaten nicht mehr nur ein individuelles Gut sind, sondern Teil einer gesellschaftlichen Verantwortung jeder und jedes Einzelnen.
Durch die dadurch entstehende verbesserte Datengrundlage könne nicht nur in vielen Versorgungsbereichen die Effizienz gesteigert, sondern vor allem auch die Qualität der medizinischen Versorgung verbessert werden. „Sonst werden wir eines Tages sehen, dass Datenschutz die häufigste Todesursache in Deutschland ist.“ Sorge pflichtete ihm bei. Langfristig müsse über den Einsatz von Echtzeitdaten zur Versorgungsforschung und -optimierung im Gesundheitswesen diskutiert werden.
Eine Absage erteilte Matheis dafür Forderungen nach Substitution, beispielsweise in der Pflege: „Wir müssen lernen, sinnvoll zusammenzuarbeiten, aber das kann nicht bedeuten, dass eine Profession eine andere ersetzt“, betonte er. „Es gibt bestimmte Sachbereiche, die in ärztlicher Hand bleiben müssen.“ © lau/aerzteblatt.de

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