Politik
Krankenkassendefizit: Lauterbachs Sparpläne
Dienstag, 28. Juni 2022
Berlin – Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat heute seine lang erwarteten Sparpläne zur Sanierung der Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) vorgelegt. Das größte GKV-Defizit aller Zeiten soll unter anderem aus dem Bundeshaushalt, mit einer Beitragserhöhung und Einsparungen gestopft werden.
Seit im Frühjahr ein nicht autorisierter Referentenentwurf eines Spargesetzes an die Öffentlichkeit gelangt war, hatte vor allem die Arzneimittelindustrie mit höchster Nervosität darauf gewartet, was Lauterbach vorhat. Die lange Wartezeit begründete er heute mit harten Verhandlungen zwischen ihm und Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) sowie der Beobachtung der makroökonomischen Entwicklung.
„Wir haben lange verhandelt, wir haben sehr intensiv verhandelt, und ich denke, dass es ein guter Kompromiss geworden ist“, erklärte Lauterbach. Voraussichtlich 17 Milliarden Euro müssen eingespart werden.
Lindner habe dabei klare Leitplanken gezogen: Die Schuldenbremse müsse eingehalten werden, es dürfe keinen Nachtragshaushalt geben und Steuererhöhungen ebenso wenig. „Ich teile alle drei Ziele ausdrücklich“, erklärte Lauterbach heute in Berlin.
Deshalb wolle er vor allem auf der Einnahmenseite ansetzen: Die drei zentralen Maßnahmen seien ein erhöhter Steuerzuschuss von zwei Milliarden Euro, ein Bundesdarlehen in Höhe von einer Milliarde Euro sowie eine Erhöhung des Zusatzbeitrages um 0,3 Beitragspunkte.
Derzeit beträgt der durchschnittliche Zusatzbeitrag 1,3 Prozent. Wie viel die Maßnahme einbringt, sei noch nicht genau berechnet. „Ich würde vermuten, dass es 4,8 bis fünf Milliarden Euro sind“, erklärte Lauterbach.
Außerdem müssten die Finanzreserven der GKV und des Gesundheitsfonds angegangen und auf das gesetzliche Minimum reduziert werden: Vier Milliarden Euro seien so bei den Kassen zu holen, 2,4 Milliarden Euro beim Gesundheitsfonds. Nimmt man all diese Maßnahmen zusammen, sei man bei etwas mehr als 14 Milliarden Euro, erklärte Lauterbach.
Drei weitere Milliarden sollen durch Effizienzsteigerungen eingespart werden. Die pharmazeutische Industrie solle dabei eine „Solidarabgabe“ von einer Milliarde Euro leisten, bei der es sich um eine einmalige umsatzabhängige Abgabe handeln werde. Die Pharmaindustrie habe in den zurückliegenden Jahren ein erhebliches Umsatzwachstum gesehen und bei den GKV-Ausgaben erstmals die ärztliche Versorgung überholt.
Lauterbach hielt daran fest, dass es keine Leistungskürzungen für Patienten geben werde. Auch bei den Honoraren der Ärzteschaft und der Krankenhäuser werde er keine Einschnitte machen, kündigte Lauterbach zwar an. Es gebe dort keinen Spielraum, allerdings werde er „kleinere Anpassungen“ vornehmen.
Zugleich erklärte der Minister, im ambulanten Bereich werde er die Neupatientenregelung streichen, die mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) eingeführt worden war. Durch sie erhielten Ärzten extrabudgetär zehn Euro für neu aufgenommene Patienten. Aus der Ärzteschaft gab es teils harte Kritik an der Maßnahme, die eine Kürzung des Honorars bedeutet. Gut informierte Kreise gehen von rund 300 Millionen Euro aus, die weniger bei den Ärzten ankommen.
Außerdem gibt es Lauterbach zufolge in der Pflege in den Krankenhäusern einen „nicht bereinigten Beitrag“, der zu einer Doppelbezahlung führen könne. Auch das solle behoben werden.
Bei weiteren Maßnahmen blieb Lauterbach – auch auf Nachfrage – im Ungefähren: Er werde das AMNOG-Verfahren (Arnzeimittelmarktneuordnungsgesetz) gründlich überarbeiten und habe sich lange damit auseinandergesetzt, welchen Beitrag die Apotheken zu den Effizienzreserven beisteuern können. Auch die Frage der Unterdeckung bei den Beitragspauschalen für Bezieher von Arbeitslosengeld II sei noch zu lösen.
Beides werde Teil des Pakets sein. Welche Maßnahmen genau geplant sind, wolle er aber noch nicht bekanntgeben, da seine Sparpläne nun erst in die Ressortabstimmung gehen. Auch seien bereits erste Vorschläge zu Strukturreformen aus seiner Krankenhauskommission absehbar: Das Gremium arbeite sehr intensiv, sei bereits 16-mal in verschiedenen Arbeitsgruppen zusammengekommen und werde voraussichtlich noch vor der parlamentarischen Sommerpause erste Vorschläge vorlegen.
Mit seinen bisherigen Verhandlungsergebnissen zeigte sich Lauterbach zufrieden: „Ich habe im Großen und Ganzen bekommen, was ich wollte.“ Die Schuld an der aktuellen Finanzlage gab er seinem Amtsvorgänger Jens Spahn (CDU).
Der habe zwar teure Leistungsreformen vorgenommen, notwendige Strukturreformen jedoch vernachlässigt. „Die Bundesregierung hat die Finanzen der gesetzlichen Krankenkassen in einem sehr schwierigen Zustand vorgefunden“, erklärte Lauterbach. „Ich habe dieses Defizit im Wesentlichen von meinem Vorgänger geerbt.“
Grüne sehen Diskussionsbedarf
Erste Reaktionen aus dem Bundestag vom Koalitionspartner zeigen, dass noch viel Arbeit auf Lauterbach wartet. Man nehme die vorgestellten Eckpunkte „mit vielen offenen Fragen und einigem Diskussionsbedarf zur Kenntnis“, sagte Maria Klein-Schmeink, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen. Sie seien eine „notwendige, aber noch keine hinreichende Antwort“ auf die vor allem von der Vorgängerregierung verursachten Finanzprobleme in der GKV.
Klein-Schmeink betonte, ein Darlehen an die GKV sei keine nachhaltige Antwort auf die strukturellen Finanzprobleme. Fragen stellten sich auch noch zur Einbeziehung der Leistungserbringer in die Einsparungen. Es müsse sichergestellt sein, dass die Regelungen nicht zulasten von ohnehin schon prekär finanzierten Leistungen gingen, die vornehmlich von Menschen mit chronischen Erkrankungen, Pflegebedürftigkeit oder Behinderung in Anspruch genommen würden.
„Im Koalitionsvertrag haben wir klare Vereinbarungen zur Stabilisierung der GKV-Finanzen getroffen“, sagte sie. Dazu gehöre die Dynamisierung des Bundeszuschusses oder die bessere Finanzierung der Beiträge von ALG-II-Beziehern. „Diese Vereinbarung haben auch Finanzminister Lindner und Bundeskanzler Scholz unterschrieben.“
Die Grünen-Politikerin bezeichnete die finanzielle Lage der GKV als „überaus ernst“. „Wenn die vereinbarten Maßnahmen aus dem Koalitionsvertrag aufgrund der angespannten allgemeinen Finanzlage nicht kommen, müssen wir über andere Maßnahmen zur Stärkung der Beitragseinnahmen reden“, erklärte sie.
Wichtig sei dabei eine faire Lastenteilung, bei der starke Schultern mehr trügen. Die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze etwa würde je nach Ausgestaltung einen erheblichen Teil der strukturellen Deckungslücke abdecken können. Auch intelligente Schritte, die Strukturreformen in der Versorgung mit mehr Effizienz verbinden, sollten ein wichtiges Element sein.
Auch der Grünen-Gesundheitsexperte Janosch Dahmen sprach sich für eine Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze aus. „Wir müssen mehr Solidarität im System schaffen“, sagte er. Die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze sollte nicht länger ein Tabu sein.“
2022 liegt die Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Krankenversicherung bei 58.050 Euro pro Jahr (4.837,50 Euro pro Monat). Bis zur Beitragsbemessungsgrenze ist das Einkommen eines Beschäftigten beitragspflichtig, alles darüber ist beitragsfrei.
Dahmen sagte: „Die gesetzliche Krankenversicherung braucht höhere Einnahmen, gleichzeitig brauchen viele Beitragszahlende eine Entlastung.“ Er stellte fest: „Wir können einem Großteil der Menschen in naher Zukunft nicht auch noch höhere Krankenkassenbeiträge zumuten.“ Im Koalitionsvertrag stehe zwar keine Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze. „Aber damals waren uns auch die enormen Preissteuerungen noch nicht absehbar“, so Dahmen.
„Der Staat muss die Einnahmeseiten der gesetzlichen Krankenversicherung verbessern, damit am Ende nicht die Beitragszahlenden die Löcher stopfen.“ Dahmen forderte deshalb auch, dass die staatlichen Zuschüsse für Hartz-4-Empfangende und Geflüchtete aus der Ukraine erhöht werden.
Auch Paula Piechotta, grüne Berichterstatterin für den Gesundheitsetat und für Arzneimittel, erklärte, in der Krise müssten starke Schultern mehr tragen, um die Beitragssteigerungen für die Versicherten gerade in dieser Zeit steigender Preise gering zu halten.
„Leider sind auch wegen der angekündigten Schuldenbremse die Spielräume äußerst eng, Kassenleistungen aus dem Haushalt zu finanzieren“, sagte sie. Für die Versicherten und die Beschäftigten im Gesundheitswesen müsse man nun noch stärker darauf achten, dass man das Geld im Gesundheitshaushalt effektiv für mehr Prävention und bessere Arbeitsbedingungen einsetze.
Der stellvertretende gesundheitspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und zuständige Berichterstatter Christos Pantazis verteidigte die Pläne. Er betonte, mit den Eckpunkten stelle man sich der Herausforderung einer zukunftsorientierten und krisenfesten Finanzierung der GKV. © lau/may/dpa/aerzteblatt.de

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