Politik
Suchtkonferenz: Wege zum Erhalt der Opioidsubstitution
Freitag, 22. Juli 2022
Berlin – Die niedersächsische Landesregierung sorgt sich um den Erhalt der flächendeckenden Versorgung in der Substitutionsmedizin. Angesichts abnehmender Verfügbarkeit müssten sich Politik und Selbstverwaltung Gedanken machen, wie sie diese Strukturen erhalten können, erklärte Gesundheitsministerin Daniela Behrens (SPD) vorgestern bei der Außerordentlichen Niedersächsischen Suchtkonferenz.
„Wir müssen mit allen Beteiligten darüber diskutieren, wie wir es hinkriegen, dass wir weiter die Versorgung der Menschen, die opioidabhängig sind, sicherstellen können“, forderte Behrens. Es handele sich um eine „sehr erfolgreiche, wissenschaftlich anerkannte Behandlung, die in den Achtzigern gegen viele Widerstände eingeführt wurde“, betonte sie. „Heute können wir sagen, das ist eine evaluierte Behandlungsform, die sich behauptet hat.“
Deshalb wolle Niedersachsen an ihr festhalten. Doch das ist nicht leicht angesichts der aktuellen Entwicklungen: 249 niedersächsische Ärztinnen und Ärzte haben Behrens zufolge im zurückliegenden Jahr rund 7.700 opioidabhängige Patienten behandelt, fast zehn Prozent der rund 80.000 Patienten deutschlandweit. Während die Zahl der Patienten steige, falle die der Ärzte aber kontinuierlich.
Und das werde sich schon bald beschleunigen: Allein in Niedersachsen hätten rund 1,6 Millionen Menschen ein Suchtproblem – mehr als jeder sechste Einwohner, betonte Behrens: „Das ist ein Massenphänomen, kein Spartenphänomen.“
Gleichzeitig nehme die Zahl der substituierenden Ärzte ab: 58,5 Jahre betrage derzeit ihr Altersdurchschnitt. „Das zeigt, was wir in d en nächsten Jahren vor uns haben“, warnte Behrens. Zwar handele es sich um einen bundesweiten Trend, dennoch müsse man die Opioid-Substitution gerade auf Landes- und Kommunalebene stärken.
Dazu gehöre einerseits, die Stigmatisierung von Suchterkrankungen zu bekämpfen und Bedingungen zu schaffen, unter denen die Substitution als ganz normale Behandlung anerkannt wird. Vor allem gehöre dazu aber, Studierende schon im Studium anzusprechen, um den Ärztemangel entgegenzuwirken, sowie an regionale Bedürfnisse und Voraussetzungen angepasste Modelle. „Wir müssen regionale Modelle entwickeln, die die Behandlung überall sicherstellen“, forderte Behrens.
Dabei geht es idealerweise nicht nur ums Erhalten. Es ist selbst jetzt noch eine Menge Luft nach oben, wie der Psychiater Thomas Peschel von der Einrichtung Patrida erläuterte: So würden bisher nur rund 50 Prozent der Patienten durch die Behandlung erreicht. „Das sind keine guten Zahlen für Deutschland, das ist in anderen Ländern anders“, sagte er. Die Schweiz beispielsweise habe eine Versorgungsquote von nahezu 100 Prozent.
Hinzu käme eine spürbare Zunahme des Konsums harter Drogen. „Es sieht aus, als wäre die offene Drogenszene zurückgekehrt“, beschrieb er mit Blick auf seine Arbeit in Hannover. „Das gab es vor zehn Jahren nicht so, also hat sich auf einigen Ebenen offenbar dramatisch etwas verändert.“
Demgegenüber stehe der Renteneintritt der „ersten, idealistischen Generation“ von Substitutionsärzten und eine mangelnde Beachtung der Opioidsubstitution in der ärztlichen Ausbildung trotz nachweislich großen Interesses der Studierenden, aber auch teilweise eine fehlende Beachtung aktueller Standards in der Therapie selbst, die diese erschweren könne: „Das Abstinenzparadigma schwebt nach wie vor über allem, auch wenn es bereits überholt ist“, kritisierte er.
Das sei ein Zeichen der anhaltenden Stigmatisierung führe zu absolut unnötigen Therapieabbrüchen. Die rechtliche Seite der Stigmatisierung sei das Thema Rechtssicherheit. So wie sich in weiten Teilen der deutschen Ärzteschaft das Abrücken vom Dogma der Abstinenz noch nicht herumgesprochen habe, sei sehr vielen auch noch nicht bewusst, dass mit der Dritten Verordnung zur Änderung der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (3. BtMVVÄndV) Verfolgunsgmöglichkeiten durch die Justiz eingeschränkt worden seien.
Denn mit der 3. BtMVVÄndV wurden Regelungen, die ärztlich-therapeutische Bewertungen betreffen, aus dem Rahmen der BtMVV in die Richtlinienkompetenz der Bundesärztekammer (BÄK) überführt. Durch diese Rechtssicherheit sei auch mehr Niedrigschwelligkeit möglich.
Aber auch in der Vergütung gebe es noch Nachbesserungsbedarf: So erhielten Ärzte bei der Ausstellung von Take-Home-Rezepten zwei Drittel weniger Vergütung. „Da werden falsche Anreize gesetzt“, monierte Peschel. Gleiches gelte für die Konsiliararztregelung: Hier stehe einem hohen Koordinationsaufwand keine Vergütung gegenüber.
Ein Ansatz, manche dieser Probleme zu lösen, sei eine bessere Koordination durch das Land. „Es braucht eine koordinierende Stelle“, sagte Peschel. So müsse man Krankenhäuser und Institutsambulanzen stärker in die Versorgung einbinden. Das sorge auch für eine bessere Qualität der Behandlung und bringe mittelfristig Nachwuchs. Außerdem sei bei Schwerpunktpraxen Psychosoziale Betreuung (PSB) vor Ort sinnvoll.
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Dabei müsse auch die Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen (KVN) mit einbezogen werden. „Die Kassenärztliche Vereinigungen macht viel möglich, kann aber auch nichts machen, wenn es keine Ärzte gibt“, sagte Peschel. Tatsächlich will sie genau das ändern, beispielsweise durch die Förderung des Nachwuchses mittels Informationsveranstaltungen, wie der KVN-Vorsitzende Mark Barjenbruch erklärte.
Darüber hinaus schaffe die KVN auch konkrete finanzielle Anreize: Für Kurse zur Erlangung der Zusatzweiterbildung „Suchtmedizinische Grundversorgung“ sei das eine finanzielle Förderung in Höhe von 500 Euro, für die Übernahme der substitutionsgestützten Behandlung in einem schlecht versorgten Landkreis bis zu 50.000 Euro als Einzelfallmaßnahme nach der Strukturfonds-Richtlinie der KVN.
Insbesondere in der Fläche sei es nämlich schwierig, Ärzte zu finden, die offen für Substitution sind. „Was es für uns leichter macht, ist, dass keine PBS vor Ort mehr vorgeschrieben ist. Es gibt dann entsprechend keine Probleme mehr, die zu besetzen“, räumte er dabei ein.
Zusätzliche Schwierigkeiten werde bereiten, dass die Ärztekammer Niedersachsen zukünftig nicht mehr den Kurs anbietet, der unter anderem für den Erwerb der Zusatzbezeichnung als Qualifikationsvoraussetzung erforderlich ist. „Wie soll die Substitution weiter sichergestellt werden, wenn es keine Möglichkeit beziehungsweise nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten zur Qualifikation gibt?“, fragte Peschel.
Außerdem sehe die KVN das Problem der Stigmatisierung ganz klar in der Praxis: Viele Einrichtungen würden sich weigern, Substitution durchzuführen oder zu unterstützen. Das betreffe beispielsweise Landkreise bei der Suche nach geeignete Räumlichkeiten oder auch die Vergabe durch Apotheken im Delegationsverfahren. Hier wäre eine Unterstützung durch das Land oder gar den Bund dringend erforderlich, erklärte er. © lau/aerzteblatt.de

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