Ärzteschaft
Fachgesellschaften sehen dringenden Überarbeitungsbedarf beim Triage-Gesetz
Montag, 1. August 2022
Berlin – Medizinische Fachgesellschaften kritisieren den Entwurf für das Triage-Gesetz, den das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) als Referentenentwurf vorgelegt hat. Das zeigt eine bisher unveröffentlichten Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), die dem Deutschen Ärzteblatt vorliegt. Vorher hatte bereits die Bundesärztekammer eine Überarbeitung angemahnt.
Die Fachgellschaften sehen „dringenden Überarbeitungsbedarf, um eine gesetzliche Grundlage für eine faires, transparentes und den Schaden für die Gesellschaft minimierendes Verfahren für die Priorisierung im Falle einer pandemiebedingten Knappheit intensivmedizinischer Ressourcen zu schaffen“, heißt es in der Stellungnahme der AWMF.
„Wir lehnen ein Losverfahren oder ‚First-come-first-serve‘ bei der Vergabe von Intensivmedizinressourcen strikt ab“, sagte Uwe Janssens dem Deutschen Ärzteblatt. Janssens ist unter anderem Past Präsident der Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) und Mitautor der Leitlinie „Entscheidungen über die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen im Kontext der COVID-19-Pandemie – Klinisch-ethische Empfehlungen“.
Er betont, dass Intensivmediziner während des Verlaufs der Intensivbehandlung die Erfolgsaussichten und Therapieziele eines Patienten immer wieder neu überprüfen und gegebenenfalls neu ausrichten müssten.
Bei dem Gesetz geht es um die Entscheidung, wer eine intensivmedizinische Behandlung erhalten soll, wenn die Kapazitäten dafür nicht für alle ausreichen, die eine solche benötigen. Das Bundesverfassungsgericht hatte am 16. Dezember 2021 geurteilt, dass der Gesetzgeber keine ausreichenden Vorkehrungen zum Schutz von Menschen mit Behinderungen vor Ungleichbehandlung für den Triagefall getroffen habe und ihn aufgefordert, diese Benachteiligung zu beseitigen.
Besonders in der Diskussion war in den vergangenen Monaten die sogenannte „Ex-Post-Triage“. Diese meint, dass auch die bereits begonnene Behandlung eines Patienten mit geringer Überlebenswahrscheinlichkeit abgebrochen werden kann, um einen Patienten mit besserer Prognose versorgen zu können.
Bei einer Anhörung im Bundesgesundheitsministerium begrüßten Sozialverbände und andere Ende vergangener Woche, dass diese Ex-Post-Triage ausgeschlossen bleiben solle. Sie forderten aber einen noch klarer formulierten Schutz für Menschen mit Behinderung.
Triageentscheidungen dürfen laut Gesetzentwurf nur aufgrund der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit der Patienten vorgenommen werden. Bestehende weitere Erkrankungen dürfen nur berücksichtigt werden, soweit sie aufgrund ihrer Schwere die kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit erheblich verringern. Gebrechlichkeit, Alter, Behinderung, verbleibende Lebenserwartung und die vermeintliche Lebensqualität dürfen nicht in die Entscheidung einfließen.
„Es ist richtig, dass niemand aufgrund des Alters oder der Gebrechlichkeit per se bei den Zuteilungsentscheidungen benachteiligt werden darf“, heißt es in der AWMF-Stellungnahme. Das Lebensalter und die Gebrechlichkeit könnten allerdings einen Einfluss auf die Überlebenswahrscheinlichkeit haben. „Vor diesem Hintergrund müssen diese zusammen mit anderen Faktoren in die Gesamtbewertung der Prognose hinsichtlich der aktuellen Überlebenswahrscheinlichkeit einfließen“, fordern die Fachgesellschaften.
Auch die Ex-Post-Triage darf den Fachgesellschaften zufolge nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden: „Medizinische und ethische Gründe sprechen aus Sicht der Fachgesellschaften dafür, bei Zuteilungsentscheidungen alle Patientinnen und Patienten einzubeziehen, die einer intensivmedizinischen Behandlung bedürfen“, argumentieren sie. Dies sei unabhängig davon gültig, ob sie bereits intensivmedizinisch behandelt würden oder nicht.
„Aufgrund des Gleichheitsgebots müssen alle Patientinnen und Patienten mit einem vergleichbaren intensivmedizinischen Behandlungsbedarf auch gleichberechtigten Zugang zu Intensivressourcen haben. Der frühere Behandlungsbeginn begründet nach unserer Auffassung keinen vorrangigen Anspruch auf eine Intensivbehandlung“, argumentieren die Autoren der Stellungnahme.
Hinzu komme, dass die aktuelle Überlebenswahrscheinlichkeit sich bei vielen Patienten erst nach einem intensivmedizinischen Behandlungsversuch verlässlicher abschätzen lasse. „Beim Ausschluss einer Ex-post-Triage ist zu erwarten, dass bei einem starken Zustrom von akut schwererkrankten Infektionspatienten die Intensivkapazitäten auf absehbare Zeit vollständig ausgelastet sind, sodass Patientinnen und Patienten mit anderen lebensbedrohlichen Erkrankungen eine verringerte Chance auf eine Intensivbehandlung haben“, warnen die Fachgesellschaften.
Dies sehen auch Juristen so: „Dass zwei oder mehrere Patienten gleichzeitig in die Notaufnahme eingeliefert werden, dürfte in der Praxis weniger häufig vorkommen als zeitversetztes Eintreffen“, argumentieren sie in einem Positionspapier zum Thema.
Bei einem Ausschluss der Ex-Post-Triage würde daher die aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit nicht verglichen, „sondern es würden nur diejenigen behandelt, die zufällig zuerst eintrafen und gegebenenfalls mit langen Liegezeiten alle Behandlungsplätze belegen“, argumentieren sie. Später eintreffende Patienten würden gar nicht mehr oder nicht mehr den Standards entsprechend intensivmedizinisch versorgt, warnen sie in der Stellungnahme. © hil/aerzteblatt.de

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