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Ärzteschaft

Virchowbund: Niedergelassene bei Digitalisierung stärker einbeziehen

Mittwoch, 7. September 2022

Dirk Heinrich, Bundesvorsitzender des NAV-Virchow-Bundes /axentis, Georg Lopata

Berlin – Der Bundesvorsitzende des Virchowbundes, Dirk Heinrich, mahnt eine stärkere Einbindung der niedergelassenen Ärzte in zukünftige Digitalisierungsprojekte der Bundesregierung an. Nur wenn für Ärzte und Patienten der Nutzen neuer Anwendungen erkennbar ist, würden sie sich bei deren Einführung aktiv einbringen.

Heinrich sieht sich selbst als digitalen Vorreiter: Schon direkt nach Übernahme seiner Hamburger HNO-Praxis im Jahr 1996 habe er auf digitale Abrechnung umgestellt und sei seit jeher beruflich wie privat am techni­schen Puls der Zeit gewesen – vom ersten Handy in den 1990er-Jahren bis zum Smartphone.

Mit der Entwicklung der vergangenen Jahre hingegen tue er sich dennoch schwer. Denn was die selbst ver­ordnete Digitalisierung von der politisch getriebenen unterscheide, sei der Fokus auf den Nutzen. „Der Nutzen muss im Vordergrund stehen und das tut er bisher nicht“, kritisierte Heinrich gestern beim 17. Kongress für Gesundheitsnetzwerker in Berlin.

Entsprechend hatte für die bisher implementierten Anwendungen auch nur Spott übrig: Das Versicherten­stammdatenmanagement (VSDM) sei „so toll wie ein Turnschuh von 1960“, sagte er. „Damit können Sie die Ärzte aus der Reserve locken – wenn sie die Arbeit der Kassen machen sollen.“

Dass das elektronische Rezept (E-Rezept) vorerst fast ausschließlich als Ausdruck zum Einsatz kommt, dürfe man im Ausland niemandem erzählen, „außer als Kalauer“, erklärte er. „Das Ding ist tot, bevor es ausgerollt wurde.“ Die bisher einzig sinnvolle Anwendung sei der Kommunikationsdienst KIM. „Nach 18 Jahren Telema­tikinfrastruktur können wir endlich E-Mails verschicken.“

Die elektronische Patientenakte (ePA) wiederum sei unvollständig, manipulierbar, aufwendig zu pflegen und unsicher. Besonders erschwerend komme hier die ungeklärte Haftungsfrage hinzu. Es handle sich bisher im Wesentlichen nur um einen digitalen Leitz-Ordner mit pdf-Dateien, keineswegs um strukturierte Daten. Dafür könne es sich schnell um hunderte Seiten handeln.

„Das kann kein Mensch lesen“, so Heinrich. Allerdings werde juristisch davon ausgegangen, dass ein Arzt den gesamten Inhalt der ePA erfasst hat, sobald er sie öffnet – für mögliche Behandlungsfehler die aus fehlenden, aber in der ePA gegebenenfalls vorhandenen Informationen könne der Arzt damit zur Verantwortung gezogen werden.

Heinrich verglich die ePA mit einem echten Leitz-Ordner voller Befunde und Diagnosen, den Patienten oft mitbringen würden. „Da sage ich auch jedes Mal, sie sollen mir nur das jeweils wichtige Dokument geben, um das es gerade geht. Denn sobald ich den Ordner anfasse, wird es juristisch so gewertet, als hätte ich jede Seite gelesen“, erklärte er. „Deshalb fasse ich die ePA nicht an.“

Er werde das erst tun, wenn es Anwendung gibt, die – beispielsweise auf der Grundlage Künstlicher Intelli­genz (KI) – wesentliche Inhalte erkennt und brauchbar zusammenfasst. Auch dann dürfe allerdings nicht der Arzt haftbar gemacht werden, wenn die KI Fehler macht.

Derlei praktische Probleme würden die bisher eingeführten digitalen Anwendungen im Gesundheitswesen für viele Leistungserbringer unbrauchbar machen. Heinrich fordert deshalb einen Paradigmenwechsel: „Wir brau­chen einen Bottom-up-Prozess, wir müssen mitgenommen werden. Aber die Niedergelassenen hat niemand gefragt.“

Dass die Bedürfnisse der Leistungserbringer nicht berücksichtigt werden, mache die bisherige Digitalisierung kontraproduktiv – statt Arbeit effizienter zu gestalten, verursache sie neuen Aufwand. „Ich halte es für abso­lu­ten Quatsch, halbgare Anwendungen in die Praxen zu drücken zum Verdruss von Ärzten und Fachangestell­ten“, sagte Heinrich. „Digitalisierung muss den Anwendern nutzen, nicht der Industrie.“

Die wiederum sieht sich jedoch genauso als Opfer der erratischen Politik des Bundesgesundheitsministeriums (BMG). Melanie Wendling, seit August Nachfolgerin von Sebastian Zilch als Geschäftsführerin des Bundesver­bands Gesundheits-IT (bvitg), nahm ihre Branche in Schutz.

So sei es irrführend Deutschland mit skandinavischen Ländern wie Schweden oder Finnland zu vergleichen und sich diese als Vorbilder bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens zu nehmen. Schließlich hätten Finnland und Schweden staatliche Systeme mit einer einzigen Krankenkasse und ohne freie Arztwahl. „Das macht es bedeutend einfacher, solche Gesundheitssysteme zu digitalisieren.“

Was Heinrich für die Niedergelassenen beklagte, konstatierte Wendling auch für die Gesundheits-IT-Branche: Sie werde vom BMG kontinuierlich übergangen. So erhalte sie weder genug Zeit, neue Anwendungen zu ent­wickeln, noch, um sie ausreichend zu testen, bevor sie ins Feld gebracht werden. Es sei außerdem eine offene Frage, wer all die neuen Anwendungen entwickeln soll, schließlich herrsche gerade in der IT ein massiver Fachkräftemangel.

Hinzu kämen ständig wechselnde Ziele und Prioritäten. „Was mir fehlt, ist Planungssicherheit für die Industrie“, beklagte sie. Zur fehlenden Planungssicherheit würden auch ständig wechselnde Fristen beitragen. So hat die Bundesregierung erst kürzlich erklärt, die Frist für die Anbindung der Krankenhäuser an das Meldesystem DEMIS vom 1. Januar 2023 auf den 17. September dieses Jahres vorzuverlegen.

Diese Frist sei nicht einzuhalten. „Das Gesetz soll am 16. September verabschiedet werden und am 17. Sep­tember sollen die Krankenhäuser angeschlossen sein“, betonte Wendling. Gleiches gelte für die anderen ge­änderten Fristen im Krankenhauspflege-Entlas­tungsgesetz (KHPflEG). Sie seien „völlig unrealistisch“, kritisierte sie. „Da frage ich mich, ob das der partizipative Prozess ist, von dem geredet wird.“ © lau/aerzteblatt.de

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