Vermischtes
Medizinalcannabis: Verbände wollen bessere Versorgung
Donnerstag, 8. September 2022
Berlin – Der Zugang zur Versorgung mit medizinischem Cannabis und dessen Erstattung muss sicherer und gerechter werden. Das fordern acht Verbände aus Medizin, Pharmazie und Industrie in einer gemeinsamen Stellungnahme. Sie regen eine Novelle des sogenannten Cannabis-als-Medizin-Gesetzes von 2017 an.
Auch fünf Jahre nach der Freigabe von Cannabis als Medizin ist es für die meisten Patienten in Deutschland nach wie vor kompliziert, langwierig und oftmals auch sehr teuer, an das Arzneimittel zu kommen. Die Therapiehoheit der Ärzte ist dabei eingeschränkt; die Krankenkassen haben das Recht, die Erstattung zu verweigern, und machen davon auch ausgiebig Gebrauch.
Noch immer würden fast 40 Prozent aller Anträge auf Kostenübernahme abgelehnt, was zu einer hohen Quote an Privatzahlern und einem „florierenden Markt von Privatärzten“ führe, die in einigen Fällen hohe Behandlungsgebühren verlangen, erklärt ein Bündnis aus acht Verbänden, zu dem neben der Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin auch die Deutsche Medizinalcannabisgesellschaft, das Wissenschaftsnetzwerk Cannabis als Medizin sowie der Verband der Cannabis versorgenden Apotheken (VCA) gehören.
Die hohe Ablehnungsquote führe wiederum zu einer sozialen Schieflage: Selbstzahler müssen oft hunderte Euro im Monat für Behandlung und Medizin aufbringen – wer sich das leisten kann, erhält eine ausreichende medizinische Versorgung, wer das Geld nicht hat, erhält sie nicht.
Hinzu komme, dass die restriktive Regulierung viele Ärztinnen und Ärzte abschrecke. „Zu wenige Ärzte verschreiben diese hochwirksame Therapie aufgrund der bürokratischen Hürden. Der Genehmigungsvorbehalt muss abgeschafft werden, um Patienten unabhängig von ihren finanziellen Möglichkeiten Zugang zu einer notwendigen Therapie zu gewährleisten“, fordert Gero Kohlhaas vom Patientenverband Selbsthilfenetzwerk Cannabis-Medizin (SCM). „Gleichzeitig müssen verschreibende Ärzte vor einem Regress geschützt werden.“
Durch die Abschaffung des Genehmigungsvorbehalts der Krankenkassen bei gleichzeitigem Schutz vor einem Regress könne die Kostenerstattung für Patienten gesichert und die Therapiehoheit der Ärzte wiederhergestellt werden.
„Die bestehenden strafbewehrten Beschränkungen der Verschreibungsmöglichkeit von Betäubungsmitteln nach Paragraf 13 Betäubungsmittelgesetz stellen bereits ausreichend sicher, dass die Verschreibung von cannabisbasierten Medikamenten nur dann erfolgen kann, wenn der ‚beabsichtigte Zweck nicht auf andere Weise erreicht werden kann‘“, erklären die Verbände dazu. Die zusätzliche Genehmigung der Anträge durch Krankenkassen sei dann nicht mehr notwendig.
Hinzu komme das Problem, dass die Aufsichtsbehörden der Bundesländer medizinisches Cannabis sehr uneinheitlich behandeln. „Eine zuverlässige Versorgung von Patienten mit qualitativ hochwertigen und geprüften Produkten braucht dringend bundeseinheitliche Rahmenbedingungen“, fordert Dirk Heitepriem, Vizepräsident des Branchenverbandes Cannabiswirtschaft (BvCW). „Egal in welchem Bundesland, Ärzte und Patienten müssen die Sicherheit haben, immer die gleiche Qualität zu erhalten.“
Und nun plant das Bundesgesundheitsministerium (BMG) noch die Freigabe von Cannabis als Genussmittel. Es sei absehbar, dass das Konsequenzen für den Bereich Medizinalcannabis nach sich ziehen werde. Der Bedarf von Cannabis als Genussmittel werde konservativ auf etwa 400 Tonnen pro Jahr geschätzt. Der Vorsitzender des Vorstands des Bundesverbandes pharmazeutische Cannabinoidunternehmen (BPC), Maximilian Schmitt, befürchtet deshalb Verdrängungseffekte.
„Der legale Markt darf auf keinen Fall die Versorgung mit Produkten für den medizinischen Bereich gefährden“, fordert er. „Um die therapeutischen Bedürfnisse von Patienten sicherzustellen, sollte deshalb der Bedarf an Medizinalcannabis vorrangig gedeckt werden.“
Außerdem müsse sichergestellt sein, dass Patienten auch künftig auf unterschiedliche Anwendungsformen der cannabisbasierten Therapie zugreifen können. So seien beispielsweise viele Patientengruppen auf den schnellen Wirkeintritt der inhalativen Einnahme von Cannabisblüten, unter anderem bei Schmerzspitzen und Spastiken, angewiesen.
Solange es keine entsprechende Auswahl an parenteralen Cannabisarzneimitteln gibt, die vergleichbar wirken, müsse den Patienten weiterhin die Möglichkeit der Cannabisblütentherapie als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung zur Verfügung stehen, fordern die Verbände.
„Auch hier würde es sonst dazu kommen, dass sich kranke Menschen im Genussmittelmarkt ohne medizinische oder pharmazeutische Beratung selbst versorgen müssen oder bei fehlenden finanziellen Mitteln zum Eigenanbau gezwungen werden“, schreiben sie in ihrem Papier.
Außerdem müsse Sorge getragen werden, dass die Forschung zu medizinischem Cannabis weitergeführt wird. Zwar sei der therapeutische Nutzen cannabisbasierter Arzneimittel bei einer Vielzahl von Indikationen unbestritten, doch bedürfe es weiterer Forschung, um das medizinische Potenzial der Behandlung wissenschaftlich zu untermauern. Die vorhandenen Ergebnisse, beispielsweise aus der Begleiterhebung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) seien dazu nicht ausreichend.
Das BfArM selbst hatte das in der Begleiterhebung eingeräumt. Die Cannabisverbände gehen aber noch einen Schritt weiter und betonten, die vorhandenen Ergebnisse könnten sogar in die Irre führen, da sie durch einen erheblichen Selektionsbias und zahlreiche weitere methodische Schwächen verzerren würden.
Um bestehende Wissenslücken zu schließen, müsse die klinische Forschung im Bereich Medizinalcannabis dringend durch bessere Rahmenbedingungen und Forschungsgelder gefördert werden, so die Forderung. Dazu gehöre auch eine Aufnahme in die Lehrpläne.
Die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Bedeutung des Endocannabinoidsystems für den gesunden Organismus und die Pathogenese und Behandlung von Erkrankungen müssten fester Bestandteil der medizinischen und pharmazeutischen Lehre werden, um Studierende, Ärzte und Pharmazeuten über das therapeutische Potenzial cannabisbasierter Arzneimittel aufzuklären und somit mehr Patienten den Zugang zu medizinischem Cannabis zu gewähren. © lau/aerzteblatt.de

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