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Barmer will Gefahren der Polypharmazie digital verringern

Mittwoch, 5. Oktober 2022

/bochka1986, stockadobecom

Berlin – Im Durchschnitt besucht ein Patient ab einem Alter von 40 Jahren innerhalb eines Jahrzehnts 21 ver­schiedene Arztpraxen. In sieben davon erhält er eine Verordnung. Im Durchschnitt werden dabei 37 Diagnosen dokumentiert, 20 Wirkstoffe verschrieben und 76 Rezepte ausgestellt, die in sechs Apotheken eingelöst wer­den. Das geht aus dem Barmer Arzneimittelreport 2022 hervor, der heute in Berlin vorgestellt wurde.

Je älter die Menschen werden, desto höher liegen die jeweiligen Werte. So hatten die zehn Prozent der Patien­ten mit der höchsten Inanspruchnahme des Systems innerhalb eines Jahrzehnts im Durch­schnitt 35 behan­deln­de Ärzte, von denen 13 eine Verordnung ausgestellt haben. Die Patienten erhielten 60 Diag­nosen und 170 Rezepte, in denen 38 Wirkstoffe verordnet wurden, die sie in elf Apotheken einlösten.

„Angesichts der Komplexität der Arzneimitteltherapie ist es für Ärztinnen und Ärzte kaum möglich, den Über­blick zu behalten und Medikationsrisiken einzuschätzen“, meinte der Vorstandsvorsitzende der Barmer, Chris­toph Straub, heute bei der Vorstellung des Reports in Berlin. Dafür sei eine digitale Unterstützung unabding­bar.

Um Ärzte bei der Arzneimitteltherapiesicherheit zu unterstützen, hat die Barmer drei Projekte initiiert, die aus Mitteln des Innovationsfonds finanziert wurden beziehungsweise werden. Das Projekt „Anwendung für ein di­gital unterstütztes Arzneimitteltherapiemanagement“ (AdAM) ist bereits abgeschlossen. Der Evaluationsbe­richt wurde gestern veröffentlicht.

In Zusammenarbeit mit der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe haben im Rahmen des Projekts etwa 940 Hausärzte zwischen Juli 2017 und Juni 2021 mehr als 11.000 Patienten betreut, die fünf oder mehr Arzneimittel eingenommen haben.

Mit Einverständnis der Patienten haben die Hausärzte die vollständigen Informationen zur Behandlungshisto­rie von der Barmer erhalten. Zusätzlich bekamen sie Hinweise auf vermeidbare Risiken der Therapie, wie zum Beispiel gefährliche Wechselwirkungen. Die unabhängige Evaluation des Projektes zeige, dass AdAM die Sterblichkeit der in das Projekt eingeschlos­se­nen Patienten im Vergleich zur Routineversorgung relativ um zehn bis 20 Prozent senke, so Straub.

„Wir zeigen mit AdAM erstmals, dass die Nutzung von Routinedaten der Krankenkasse zur Behandlungsunter­stützung und die elektronisch unterstützte Prüfung auf vermeidbare Risiken Ärzten eine bessere Behandlung ihrer Patienten ermöglichen. Bei flächendeckender Anwendung durch die niedergelassenen Ärzte kann AdAM jährlich 65.000 bis 70.000 Todesfälle bundesweit vermeiden“, sagte er.

Mit dem Projekt „Transsektorale Optimierung der Patientensicherheit (Top)“ soll AdAM künftig in die stationäre Versorgung überführt werden. Der jeweilige Medika­tions­plan soll dabei für Notfallpatienten vorliegen. Der Autor des Arzneimittelreports, Daniel Grandt, Chefarzt am Klinikum Saarbrücken, wies darauf hin, dass eine DKI-Umfrage gezeigt habe, dass bei vier von fünf Not­fallpatienten die zur Versorgung notwendigen Informationen fehlten. Das sei „eine Katastrophe“.

Das im Oktober dieses Jahres gestartete Projekt „E-Rezept als Element interprofessioneller Versorgungspfade für kontinuierliche Arzneimittelthe­rapiesicherheit“ (eRIKA) soll den Zugriff auf die Medikationspläne über das elektroni­sche Rezept (E-Rezept) auch auf die Apotheker ausweiten, die dann ebenfalls auf die Daten zugreifen können sollen. „Jeder Patient, dem ein Arzneimittel verordnet wird, hat dann immer einen aktuellen und voll­ständi­gen Medikati­ons­plan, und das ohne Zusatzaufwand für Ärzte, Apotheker oder Patienten“, so Grandt.

Straub wünschte sich, dass die Konzepte in die Regelversorgung überführt werden. Im Sozialgesetzbuch V ist derzeit die Einführung einer elektronischen Patientenakte (ePA) im Rahmen der Telematikinfrastruktur vorge­sehen. Im Unterschied zu AdAM können die Patienten dabei aber selbst entscheiden, welche Ärzte welche Teile ihres Medikationsplans einsehen können.

Straub betonte, es bestehe seitens des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) und der Gematik großes Interesse darin, die Konzepte der drei Projekte in die Regelversorgung zu überführen. Sinnhaft sei eine Über­führung in die Regelversorgung aber nur dann, wenn der Medikationsplan vollständig und aktuell sei. „Ich kann mir keine gesetzliche Lösung vorstellen, in dem die Patienten Teile ihrer Medikation aus dem Plan streichen dürfen. Denn was diese Projekte sinnhaft macht, ist ja gerade, dass der Medikationsplan vollständig ist“, sagte Straub.

Grandt stellte klar, dass der Medikationsplan für einen Arzt eine valide Quelle wäre, wenn die Behandlungs­his­torie komplett einsehbar sei. „Wenn man sich aber nicht darauf verlassen kann, dass die Informationen vollstän­dig sind, ist das ein Problem“, betonte er.

Zudem seien die Daten sofort verfügbar und müssten nicht noch händisch ein­ge­tragen werden. Die Daten händisch und ohne digitale Unterstützung in die ePA einzutragen, ist nach An­sicht von Grandt unrealistisch. Zumal die Fähigkeit zum digitalen Management der eigenen Gesundheitsdaten mit höherem Alter nachlasse. Deshalb könne die Verwendung einer ePA nur gelingen, wenn die Daten automatisch aufgespielt werden.

Damit die Konzepte in die Regelversorgung überführt werden können, müsse der Gesetzgeber den derzeit bestehenden ordnungspolitischen Rahmen ändern, forderte Straub. „Wir brauchen die Erlaubnis, um die von uns ohnehin er­fassten Daten für den Zweck der Patientenversorgung verwenden zu dürfen“.

Diese Daten müssten maschinenlesbar und standardisiert erfasst werden: nicht nur die Wirkstoffe, sondern auch die Dosie­rung. „So etwas gibt es heute nicht“, so der Chef der Barmer. Zudem soll die In­teroperabilität der Praxisverwaltungssysteme und der Krankenhausinformationssysteme sichergestellt wer­den. Dies sei allerdings bereits Teil eines laufenden Gesetzgebungsverfahrens.

Straub forderte darüber hinaus ein Gesundheitsdatennutzungsgesetz. Zwar seien Gesundheitsdaten besonders sensibel, sie könnten aber auch dazu beitragen, Menschenleben zu retten. „Deshalb ist es besonders wichtig, ihre Nutzung jetzt zu regeln“, betonte Straub. Er hoffe sehr, dass es noch in dieser Legislaturperiode ein Gesundheitsdatennutzungsgesetz geben werde.

Damit sollten der Umgang mit Patientendaten selbstverständlich gemacht werden und die Datennutzung nicht immer unter dem Damoklesschwert einer datenschutzrechtlichen Unmöglichkeit stehen. Das sieht auch Grandt so: „Man muss sich doch fragen, was wichtiger ist. Der Datenschutz oder das Überleben der Patien­ten?“ © fos/aerzteblatt.de

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