Politik
GKV-Finanzreform verabschiedet: Zuschläge für Terminvergabe statt Neupatientenregelung
Donnerstag, 20. Oktober 2022
Berlin – Der Bundestag hat das Gesetz zur Stabilisierung der Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-FinStG) verabschiedet. Von besonderer Bedeutung für die Ärzteschaft ist dabei, dass mit ihm an die Stelle der extrabudgetären Vergütung für die Aufnahme von Neupatienten gestaffelte Zuschläge für die Terminvergabe treten sollen.
Der Gesetzentwurf wurde in der vom Gesundheitsausschuss geänderten Fassung verabschiedet. Neben einem höheren Bundeszuschuss und höheren Versichertenbeiträgen sieht er eine Reihe von Einsparungen bei den Leistungserbringern und der Pharmaindustrie vor.
Die Pläne hatten in den vergangenen Wochen für breite Proteste von Ärzten, Apothekern sowie Arzneimittelherstellern gesorgt. Insbesondere die geplante Streichung der Neupatientenregelung aus dem Terminservice- und Versorgungsgesetz (TVSG) hatte in der Ärzteschaft Entrüstung hervorgerufen.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) betonte vor der heutigen Abstimmung im Bundestag erneut, dass das Gesetz ohne Leistungskürzungen auskomme. Die GKV-Versicherten hätten bereits mit Energiepreisen und Inflation zu kämpfen, da könne man ihnen das nicht auch noch zumuten.
„Das 17-Milliarden-Defizit wird behoben, ohne dass es in irgendeinem Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung zu Leistungskürzungen kommt. Das ist eine große Leistung“, pries er sein Gesetz. Vor allem in zwei Bereichen beinhalte es auch tiefergehende strukturelle Reformen: Erstens seien in der Arzneimittelversorgung Probleme gelöst worden, „die wegen des Drucks der Lobbygruppen bisher nicht gelöst werden konnten“.
Zweitens habe er mit der Alternative zur extrabudgetären Vergütung der Aufnahme von Neupatienten im ambulanten Sektor einen großen Schritt getätigt. „Jeder weiß, dass die sogenannte Neupatientenregelung eigentlich nur auf dem Papier bestand und häufig Patienten, die es schon immer gab, in den Praxen als Neupatienten geführt worden sind, sodass wir hier mehr als eine halbe Milliarde Euro pro Jahr ausgegeben haben, ohne dass es zu einer Verbesserung der Versorgung gekommen ist“, erklärte er. „Das haben wir beendet.“
Entgegenkommen für Vertragsärzte
Letztlich hatte das Bundesgesundheitsministerium (BMG) den Entwurf in diesem Punkt nachgebessert und anstelle der ersatzlosen Streichung der Regelung ein abgestuftes Vergütungssystem gesetzt, bei dem Honorare für Hausärzte steigen, die erfolgreich kurzfristig bei Fachärzten vermitteln, und für Fachärzte, die mit den Terminservicestellen zusammenarbeiten.
Am höchsten soll der Zuschlag auf die Grund- sowie auf die Versichertenpauschale sein, wenn im Akutfall nach der Kontaktvermittlung ein Termin am nächsten Kalendertag erfolgt: Dann können bis zu 200 Prozent der jeweiligen Versicherungspauschale sowie Grundpauschale gezahlt werden. Hausärzte bekommen demnach 15 Euro, wenn sie einen Termin bei einem Facharzt vermitteln.
In einer zweiten Stufe gibt es einen 100-prozentigen Zuschlag, wenn die Behandlung spätestens am vierten Tag nach der Terminvermittlung durch die Terminservicestelle oder den Hausarzt beginnt. Somit erhalten Fachärzte, als Anreiz für schnellere Termine die zusätzlichen Zuschläge, wenn in dieser Frist eine Behandlung beginnt. Es folgen 80 Prozent der Pauschale, wenn die Behandlung spätestens am 14. Tag nach der Vermittlung beginnt, sowie ein Zuschlag von 40 Prozent, wenn die Behandlung am 35. Tag beginnt.
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) zeigt sich wenig zufrieden mit Ersatz für die Neupatientenregelung. „Das vermeintliche Zugeständnis der Ampelkoalition, durch die Terminservicestellen den Wegfall der Neupatientenregelung zu kompensieren, ist bestenfalls ein Tropfen auf den heißen Stein“, kommentierte der Vorstandsvorsitzende Andreas Gassen.
„Die Kolleginnen und Kollegen in den Praxen, die aktuell mit immensen Kostensteigerungen zu kämpfen haben, sind frustriert und maßlos enttäuscht von diesem Beschluss.“ Er gehe davon aus, dass es in den nächsten Wochen zu weiteren Protesten gegen die Streichung der Neupatientenregelung und die damit verbundenen Folgen für die Versorgung der Patientinnen und Patienten kommen wird, sagte Gassen.
Dieses neue System sei „ein Schritt in Richtung Abbau der Zweiklassenmedizin“, erklärte hingegen Lauterbach im Bundestag. Der Unterscheid zwischen gesetzlich und privat Versicherten werde damit weiter verringert. „Somit haben wir auch hier eine Strukturreform geschaffen.“
Das sah CSU-Gesundheitspolitiker Stephan Pilsinger anders. Die neue Regelung werde ganz im Gegenteil zu massiven Verlängerungen in der Facharztversorgung führen. „Das schlimmste aber ist, dass ihre Einsparungen damit am Ende die Gesundheit der Patienten verschlechtern werden und damit langfristig mehr kosten als sie jetzt einsparen können“, erklärte er.
Die Unionsopposition kritisierte vor allem, dass das Gesetz keine notwendigen strukturellen Reformen angehe. „Dieses Gesetz ist reine Flickschusterei ohne einen nachhaltigen Effekt“, sagte Pilsinger. „Das ist ein Problemverschiebegesetz“, erklärte auch der gesundheitspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Tino Sorge (CDU). „Wenn sie sagen, es gäbe keine Leistungskürzungen, stimmt das nicht.“ Lauterbach belaste einseitig die Beitragszahler, drehe gute Regelungen zurück und belaste Ärzte, Apotheker und Arzneimittelindustrie.
Die grüne Gesundheitspolitikerin Maria Klein-Schmeink wies das entschieden zurück. Natürlich gebe es Zumutungen für Ärzte, Apotheker, Pharmaindustrie und Kassen: „Aber diese Zumutungen sind vertrebar, denn wir müssen dafür sorgen, das wir erstens Stabilität kriegen und zweitens keinen riesigen Beitragssprung bekommen.“
Spargesetz trifft auch die Bürger
Als Folge des Gesetzes wird der variable Zusatzbeitrag für Versicherte im kommenden Jahr steigen. Auf Grundlage der Ergebnisse des Schätzerkreises wird das BMG den durchschnittlichen Zusatzbeitragssatz festlegen, bei dem momentan mit einer Anhebung um 0,3 Prozentpunkte gerechnet wird.
Der Bundeszuschuss an den Gesundheitsfonds soll im kommenden Jahr um zwei Milliarden Euro erhöht werden und dann bei 16,5 Milliarden Euro liegen. Darüber hinaus will der Bund der GKV ein unverzinsliches Darlehen in Höhe von einer Milliarde Euro gewähren.
Das kritisierte vor allem Die Linke. Neben einem „zwangsweise Darlehen aus der Staatskasse, von dem keiner weiß, wann und wie es zurückzahlen kann“ belaste das Gesetz vor allem die Beitragszahler, also „gerade die Menschen, die im Moment sowieso nicht wissen, wie sie ihre Rechnungen für Energie und Essen bezahlen sollen“, betonte die Linken-Abgeordnete Kathrin Vogler.
Andrew Ullmann, gesundheitspolitischer Sprecher der FDP-Fraktion, betonte das genaue Gegenteil: Ohne die Maßnahmen im Gesetz hätte die Beitragssteigerung mindestens einen ganzen Prozentpunkt betragen, erklärte er. „Eine solche Beitragssteigerung würde die anderen Entalstungsmaßnahmen wie jene zu Energiepreisen wirkungslos machen“, sagte er.
Es habe ihn entsetzt, dass die Union im Ausschuss Änderungsanträge gestellt habe, die ungedeckte Mehrausgaben von anderthalb Milliarden Euro enthielten. „Sie geben leere Versprechungen ab, nehmen Beitragserhöhungen für den deutschen Mittelstand in Kauf“, warf er der Union vor. „Sie wissen, dass das keine gute Oppositionsarbeit ist. Zum Glück haben sie noch mindestens sieben weitere Jahre zum Üben.“
Die Kassen sollen sich aber auch mit eigenen Mittel an der Stabilisierung ihrer Finanzen beteiligen: So werden ihre Liquiditätsreserven weiter abgeschmolzen und die Obergrenze für die Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds halbiert. Dadurch sollen Mittel für höhere Zuweisungen an die Krankenkassen frei werden.
„Wir haben bei den Krankenkassen zum Teil noch erhebliche Rücklagen gehabt“, betonte Lauterbach. Die müssten nun mit einfließen. „Das ist nicht die Zeit, in der Krankenkassen sich prunkvolle neue Gebäude errichten oder Rückstellungen für solche Gebäude besitzen.“
Auf Grundlage eines Änderungsantrages wurde beschlossen, das sogenannte Schonvermögen der Krankenkassen auf vier Millionen Euro zu erhöhen. Ziel ist dabei, sicherzustellen, dass vor allem kleine Krankenkassen nach der Abschmelzung von Rücklagen noch genügend Finanzreserven behalten.
Auf die 17 Änderungsanträge bezog sich Lauterbachs Parteigenosse Christos Pantazis. Die Fraktionen hätten noch viele Änderungen und teils Abmilderungen durchsetzen können: Das Schonvermögen der Kassen sei von zwei auf drei Millionen Euro erhöht sowie die Parodontitisbehandlung für Pflegebedürftige und Menschen mit Behinderungen verbessert worden und bei Arzneimitteln sei „der Kern der Reform verteidigt“ worden und unter anderen noch Verbesserungen bei Kopmbinationstherapien und Medikamenten gegen seltene Erkrankungen erreicht worden.
„Wir haben bewiesen, dass in Zeiten, in denen eine Krise die nächste jagt, der Parlamentarismus, dessen Wesen der Kompromiss ist, funktioniert“, erklärte Pantazis. „All diese Maßnahmen werden kritisch evaluiert und begleitet. Dadurch sichern wir den Forschungs- und Innvoationsstandort Deutschland.“
Der GKV-Spitzenverband kritisiert, dass mit dem Gesetz nur kurzfristig Löcher gestopft würden und strukturelle Finanzierungsdefizite wie die unzureichende Übernahme der Beiträge von Arbeitslosengeld-II-Beziehenden durch den Bund nicht angegangen würden. Allein durch diese Übernahme könnten jährlich über 10 Milliarden Euro an Beitragsgeldern eingespart werden, klagen die Kassen.
In Krankenhäusern wiederum soll gespart werden, indem ab 2024 nur noch die Pflegepersonalkosten qualifizierter Pflegekräfte im Pflegebudget berücksichtigt werden können, die in der unmittelbaren Patientenversorgung auf bettenführenden Stationen eingesetzt werden.
Auch bei den Apotheken sollen ihren Teil beitragen: Der Apothekenabschlag zugunsten der Krankenkassen wird für die Dauer von zwei Jahren von 1,77 Euro auf 2 Euro je Arzneimittelpackung erhöht. Hiergegen hatten deutschlandweit viele Apotheken vergeblich protestiert, teilweise mit Streiks kurz vor der heutigen Lesung des Gesetzes.
ABDA-Präsidentin Gabriele Regina Overwiening: „Dies ist ein schwarzer Tag für die Apotheken in Deutschland“, erklärte Gabriele Regina Overwiening, Präsidentin der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA). Ausgerechnet jetzt, wo die Apotheken wegen Inflation und Energiekrise selbst Hilfe und Entlastung bräuchten, werde ihnen die Vergütung gekürzt – dabei seien sie mit einem Anteil von 1,9 Prozent an den GKV-Ausgaben mitnichten ein Kostentreiber.
Einsparpotenziale sollen auch in der Pharmaindustrie verwirklicht werden: So soll 2023 der Herstellerabschlag insbesondere für patentgeschützte Arzneimittel um fünf Prozentpunkte erhöht und das Preismoratorium für Arzneimittel bis Ende 2026 verlängert werden. Außerdem sind angepasste Regelungen für die Erstattungsbeträge im Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes (AMNOG) vorgesehen.
Die Unternehmen und Verbände haben seit Wochen gegen das Gesetzesvorhaben protestiert und dabei vor allem darauf verwiesen, dass die Einsparungen zeitgleich mit den wirtschaftlichen Schwirigkeiten durch Energiepreiskrise, Inflation und allgemeinen Preissteigerungen bei Vorprodukten zusammenfallen würden. Sie sehen nach eigenen Angaben den Standort Deutschland in Gefahr.
Für den Spitzenverband Fachärzte Deutschlands (Spifa) geht das Gesetz an keiner Stelle weit genug. „Dieses Gesetz löst keine Probleme. Es mag die Finanzlage der Krankenkassen im kommenden Jahr stabilisieren, das Gesundheitswesen selbst hingegen wird geschwächt,“ erklärte der Vorstandsvorsitzende Dirk Heinrich. „Mit diesem Gesetz lässt die Bundesregierung die entscheidenden Fragestellungen offen und ausnahmslos alle Akteure des Gesundheitswesens im Regen stehen.“
Der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Klaus Reinhardt, hatte bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass die Politik Unwuchten beseitigen muss. Der Bund sollte endlich seiner Verantwortung gerecht werden und die Gesundheitsversorgung von ALG-II-Empfängern kostendeckend finanzieren, hatte er kürzlich gesagt. Derzeit wird für jeden Hartz IV-Empfänger eine Pauschale von gut 100 Euro vom Bund gezahlt. Das deckt etwa ein Drittel der tatsächlich im Durchschnitt anfallenden Behandlungskosten ab. © lau/aerzteblatt.de

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