Ärzteschaft
Marburger Bund: Klinikärzte fordern sofortigen Bürokratieabbau
Samstag, 5. November 2022
Berlin – Die Unzufriedenheit über die Arbeitsbedingungen von Ärztinnen und Ärzten sowohl im Krankenhaus als auch im ambulanten Bereich nehmen weiter zu. Darauf verwies die erste Vorsitzende des Marburger Bundes (MB), Susanne Johna, bei der 140. Hauptversammlung der Ärztegewerkschaft. Hierfür seien maßgeblich die weiter zunehmende Belastung durch Bürokratie- und Dokumentationspflichten als auch die schlechte Personalbesetzung vor allem in den Krankenhäusern verantwortlich.
In einer Mitgliederbefragung des MB aus dem Jahr 2013 erklärten damals acht Prozent der Befragten, dass sie mehr als drei Stunden täglich mit Bürokratie verbringen. In einer aktuellen MB-Umfrage aus diesem Jahr erklärten hingegen 32 Prozent der Befragten, dass sie hierfür mehr als vier Stunden brauchen, erläuterte Johna.
Und: Ein Viertel der befragten knapp 8.500 Personen erklärte in der Umfrage von 2022, dass sie einen Berufswechsel erwägen. „Das ist ein Skandal und das ist ein Hilferuf“, betonte Johna.
Zwar habe die Ampelregierung im Koalitionsvertrag ein Bürokratieabbaupaket im Gesundheitswesen angekündigt, dies habe der Verband mit Freude vernommen. Allerdings ist seitdem ein Jahr vergangen und nichts sei passiert. „Das ist sehr enttäuschend“, sagte Johna. Sie könne die Zurückhaltung bei der Entbürokratisierung nicht verstehen, denn der Abbau koste kein Geld, setze aber sofort pflegerische und ärztliche Arbeitszeit frei. Bei einer Halbierung des durchschnittlich täglichen Bürokratieaufwands von drei Stunden könnte die Arbeitskraft von 32.000 vollzeitbeschäftigten Ärztinnen und Ärzten in den Krankenhäusern sofort zur Verfügung stehen.
Überbordende Qualitätssicherung frisst zu viel Zeit
Verantwortlich für die Bürokratie im ärztlichen Alltag sei insbesondere die Qualitätssicherung, sagte Johna. Es sei zwar wichtig, Vorgaben zur Struktur- und Prozessqualität zu haben. Die Sicherung habe sich aber zunehmend auf datengetriebene Qualitätsmessung verengt. Die Ärzteschaft erfasse für die Qualitätssicherung jedes Jahr mehr als zwei Millionen Datensätze mit teilweise bis zu 50 Unterpunkten. Trotzdem zeigten diese kaum Auswirkungen auf eine Verbesserung der Patientenversorgung, so Johna.
Sie appellierte an Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), dass der Bürokratieabbau in jedem Fall zum neuen Krankenhauskonzept gehören müsse, die die Regierungskommission Krankenhaus gerade erarbeite. Sie biete hierzu auch die Mitarbeit des MB an: „Wir Ärztinnen und Ärzte und auch die Pflegenden wissen, wo der Schuh drückt und was zu tun ist, um endlich wieder mehr Zeit für die Versorgung zu gewinnen.“ Der Fachkräftemangel verbiete eine Verschwendung ärztlicher Arbeitszeit.
Die 235 Delegierten der MB-Hauptversammlung verabschiedeten heute außerdem einen entsprechenden Antrag zum sofortigen Bürokratieabbau. „Die Zahl der Gesetze und die damit im Zusammenhang stehenden Regulierungsvorschriften nehmen seit Jahren weiter zu, ebenso wie die Kontrollbürokratie für die Abrechnungen mit den Krankenkassen. Ein großer Teil der Regelungen verursacht Mehrfachdokumentationen oder dient nicht der medizinisch sinnvollen Dokumentation“, so die Delegierten. Der geringe Grad an Digitalisierung führe weiter zu einem zusätzlichen bürokratischen Aufwand, weil viele Prozesse händisch beziehungsweise in Papierform abgewickelt werden müssten.
Kritik ernteten auch die Bundesländer. Die Gesundheitsministerinnen und -minister der Länder hatten in einem Beschluss Ende Oktober mit Eckpunkten zu einer Klinikreform bekräftigt, dass die Krankenhausplanung Ländersache sei und allein in der Verantwortung der Bundesländer bleiben müsse. Angesichts der jahrelangen Unterfinanzierung der Krankenhäuser durch die Länder sei dieses Papier allerdings nicht ernst zu nehmen, sagte Johna. Die Gesundheitsminister tun so, als sei alles in bester Ordnung und sehen keinen Grund zur Selbstkritik. Das sei das Gegenteil von verantwortlicher Politik, so Johna. Sie plädierte dafür, ein sinnvolles Krankenhauskonzept über Bundesländergrenzen hinweg zu etablieren.
Gesundheitsversorgung in der Krise aufrecht erhalten
In ihrem Bericht erwähnte Johna zudem, dass die aktuellen Krisen bedingt durch Inflation und hohe Energiepreise, die wiederum insbesondere aufgrund des Kriegs gegen die Ukraine ausgelöst wurden, zu deutlichen Belastungen der Bevölkerung in Deutschland führe. Es werde etwa nicht mehr über Wachstum gesprochen, sondern über die Notwendigkeit von Einschränkungen. Diese Nöte würden die Menschen verunsichern. „Es ist uns als Verband in der Mitte dieser Gesellschaft nicht gleichgültig, dass die Zahl der Menschen zunimmt, die jeden Euro zweimal umdrehen müssen.“
Johna sei sich des Zusammenhangs zwischen Armut und Gesundheit bewusst. Umso wichtiger sei es, dass die Daseinsvorsorge und das Gesundheitswesen in der Krise funktioniere und der niedrigschwellige Zugang zu Gesundheitsleistungen erhalten bleibe. „Darauf müssen sich die Menschen verlassen können und das muss bei aller Notwendigkeit von Umstrukturierung im Vordergrund stehen“, betonte sie.
Angesichts der vielen Krisen geraten zudem dringend notwendige Investitionen in den Klimaschutz gerade in den Hintergrund, bemängelte sie. Klimaschutz sei auch immer Gesundheitsschutz. Auch die benötigte Einführung eines nationalen Hitzeschutzplans dürfe auch in der kalten Jahreszeit nicht vergessen werden.
Johna und Botzlar für Vorstandsvorsitz wiedergewählt
Nach ihrem Bericht wurde die Internistin Johna heute als erste Vorsitzende des Marburger Bundes von den Delegierten mit 211 von 219 abgegebenen Stimmen wiedergewählt. Die Amtszeit des gesamten Bundesvorstands wurde gestern per Beschluss verlängert, von ehemals drei auf nun vier Jahre. Die nächste Wahl findet also planmäßig 2026 statt. Zweiter Vorsitzender wurde erneut Andreas Botzlar, Chirurg aus München. Für den Beisitz im Bundesvorstand wurden Hans Gehle, Melanie Rubenbauer-Beyerlein, Peter Bobbert, Henrik Herrmann, Sylvia Ottmüller, Sven Dreyer und Claudia Hellweg gewählt.
Die Hauptversammlung forderte heute zudem die sofortige Herausnahme der ärztlichen Personalkosten aus den diagnosebezogenen Fallpauschalen (DRG). Stattdessen sollte es eine ausreichende Finanzierung in einem eigenständigen Budget geben. Dies würde den aktuellen Personalengpässen in den Krankenhäusern entgegenwirken.
Ex-Post-Triage muss möglich sein
Die Klinikärzte sprachen sich außerdem dafür aus, dass die sogenannte Ex-Post-Triage in extremen Mangelsituationen künftig möglich sein müsse. In diesem Zusammenhang betonten die Klinikärzte, dass eine Änderung der ärztlichen Indikationsstellung keine Triage sei und damit nicht verwechselt werden dürfe.
Der Bundestag will voraussichtlich am kommenden Donnerstag ein Gesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes verabschieden, in dem eine Regelung getroffen werden soll, um die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen bei intensivmedizinischen Behandlungen zu verhindern. In diesem Gesetz soll aber die Ex-Post-Triage explizit ausgeschlossen werden. Damit kann eine laufende intensivmedizinische Behandlung zugunsten eines Patienten mit besseren Überlebenschancen nicht abgebrochen werden. © cmk/aerzteblatt.de

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