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Politik

„Die Praxen kommen in den Pandemieplänen bisher gar nicht vor“

Samstag, 21. Januar 2023

Berlin – Das deutsche Gesundheitswesen ist für kommende Krisensituationen nicht widerstandsfähig genug, es fehlen an vielen Stellen die Resilienz, die sinnvolle Koordination und vor allem ausreichend Daten. Das kritisiert der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen und in der Pflege (SVR) in seinem neuen Gutachten „Resilienz im Gesundheitswesen. Wege zur Bewältigung künftiger Krisen“, das kürzlich in Berlin vorgestellt wurde.

Der scheidende SVR-Vorsitzende Ferdinand Gerlach erklärt im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt, wer die Resilienz des Gesundheitswesens in die Hand nehmen sollte und warum Arztpraxen unbedingt in die künftigen Pandemiepläne aufgenommen werden müssen.

Fünf Fragen an Ferdinand Gerlach, Vorsitzender des Sachverständi­genrats Gesundheit

Deutsches Ärzteblatt: Herr Professor Gerlach, wenn man das Gut­achten liest, fragt man sich: Wer soll der entscheidende Akteur sein, der die Maßnahmen für eine bessere Resilienz im Gesundheitswesen in die Hand nehmen sollte?
Ferdinand Gerlach: Es kann nicht den Einen geben, da sind alle im Gesundheitssystem gefragt: Arztpraxen, Apotheken, Kliniken, der Öffentliche Gesundheitsdienst, die Akteure in der Arzneimittelver­sorgung.

Dafür müssen geeignete Rahmenbedingungen geschaffen und An­reize gesetzt werden, es braucht eine Strategie. Das bedeutet konkret, dass alle Bereiche gefragt sind und Verantwortung übernehmen müssen. Dazu gehören etwa Kassenärztliche Vereinigungen, die ge­samte Selbstverwaltung oder alle Krankenhäuser.

Und: Es kommt ja auch auf die Art der Krise an. Beim Klimawandel braucht man eine All-Gefahren- beziehungsweise All-Hazards-Strategie, kombiniert mit einem Health-in-all-Policies-Ansatz. Hier müssen der Verkehr, die Stadtplanung sowie künftig der klimagerechte Bau von Kliniken und Praxen berücksichtigt werden.

DÄ: Können Sie die Prinzipien „All-hazard“ und „Health in-All-Policies“ einmal erläutern?
Gerlach: Wir wissen ja nicht, was die nächste Krise sein wird, die uns herausfordert. Derzeit beschäftigen uns SARS-CoV-2, der Krieg in der Ukraine, Energieknappheit und Lieferkettenprobleme bei Arzneimitteln. Früher oder später kommen wieder gravierende Hitzewellen, oder es gibt eine ganz andere unvorhergesehene Krise.

Wir müssen auf verschiedene Dinge vorbereitet sein. Dafür gibt es ein paar Basismechanismen, die verlässlich funktionieren müssen. Wir brauchen zum Beispiel bessere, breiter besetzte Krisenstäbe, wir brauchen unbe­dingt eine bessere Koordination zwischen Bund und Ländern.

Derzeit liegt die Verantwortung für den Katastrophenschutz bei den einzelnen Landkreisen. Hier fehlen sta­bile Strukturen, die das zusammenführen. Wir haben zwar ein Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katas­trophenhilfe – das ist aber für Krisen personell, finanziell und regulatorisch viel zu schwach aufgestellt.

Egal, welche Krise als nächstes kommt, es braucht eine Vorbereitung und entsprechend stabile Strukturen. Dazu zählen auch Notfallpläne oder Katastrophenschutzübungen. Auch die Beteiligten an solchen bisher zu seltenen Übungen, also Feuerwehr, THW, Krankenhäuser und Polizei, aber auch die bisher völlig vergessenen Praxen müssen zusammenwirken. Da es keinen einfachen Schalter gibt, den man nur umlegen muss, sind verbesserte Strukturen und ein Bündel von Maßnahmen auf vielen Ebenen erforderlich.

DÄ: Der Einzelne im Gesundheitswesen sagt jetzt vielleicht: Ich bin doch schon gut auf Krisen eingestellt. Laut Ihrem Gutachten ist es ja nicht soweit. Wie schätzen Sie die Krisenfestigkeit des Gesundheitswesens ein?
Gerlach: Wir sind ja schon überfordert, wenn mehrere Atemwegserkrankungen zeitgleich kommen. Dann ist ja unser System teilweise schon am Anschlag. Selbst in Normalverfassung haben wir durch die vielen Ineffizien­zen, etwa die international auffällige sehr hohe Arzt-Patienten-Kontaktzahl, sowie die sehr hohe Zahl an stationären Aufenthalten Probleme.

Uns­er System läuft an verschiedenen Stellen heiß. Wie ein Hamsterrad: viel zu schnell und ungezielt, es wird oft viel zu viel gemacht. Gleichzeitig aber, etwa bei der Langzeitpflege, bei der hausärztlichen Versorgung so­wie im ländlichen Raum, auch zu wenig. Das ist ja unser Grundthema: Über-, Unter- und Fehlversorgung haben wir in unserem Gesundheitssystem nebeneinander. Es ist eine Daueraufgabe, hier gezielt gegenzusteuern.

DÄ: Wie weit kann man aus der Coronapandemie lernen und welche Schlüsse sollte man ziehen?
Gerlach: Man kann sehr viel daraus lernen. Ein Beispiel: Praxen sind insgesamt vergessen worden, sie kom­men in Pandemieplänen bisher in der Regel gar nicht vor. Dies obwohl die Praxen ganz wesentlich bei der Be­wältigung der Krise geholfen haben, denn die meisten Patienten wurden dort versorgt. Die Praxen haben den wesentlichen Teil der Impfkampagne geschultert, sie haben die konkrete Aufklärung gemacht, sie haben die Heime versorgt.

Ohne die Praxen geht es gar nicht. Die ambulante Versorgung muss also zukünftig in Pandemieplänen be­rücksichtigt und auch in Übungen einbezogen werden. So muss zum Beispiel geklärt werden, wie zukünftig die Bevorratung und Verteilung von persönlicher Schutzausrüstung, Impfstoffen oder Tests erfolgen soll.

Entsprechende Strategien sind nie durchdacht beziehungsweise in den Plänen vorgesehen worden. Und wenn man Strategien und Pandemiepläne hat, ist es auch wichtig, diese einmal zu üben. Erst den Ernstfall abzuwar­ten und dann festzustellen, ob sie praktikabel sind, wäre fahrlässig.

DÄ: Weitere zentraler Baustein des Gutachtens ist ja die Kommunikation, das Vertrauen in die Kommunikation des Staates sowie digitale Frühwarnsysteme. Wie weit sind sie zuversichtlich, dass künftig mehr Zielgruppen erreicht werden?
Gerlach: Viele Maßnahmen, die ergriffen wurde, haben nicht oder unzureichend funktioniert. Wenn wir nach Israel schauen, dann gibt es dort für alle Bürgerinnen und Bürger eine elektronische Patientenakte (ePA). Über diese hat man in der Krise die Möglichkeit gehabt, und auch genutzt, Hochrisikopatienten über Schutzmaß­nah­men aktiv zu informieren.

Auf dieser Basis erfolgt später schnell, unaufgeregt und nach Risiko gestaffelt die Einladung zur Impfung. Die Basis für die notwendige Transparenz über das Krisengeschehen und entsprechend gezielte Maßnahmen ist eine funktionierende elektronische Patientenakte, die in ihrer Funktionalität deutlich über das hinausgeht, was wir in Deutschland bisher haben.

Wir waren in der Pandemie im Datenblindflug und hätten wir eine funktionierende ePA, dann hätten wir zum Beispiel in Echtzeit die konkrete Belastung von Praxen und Kliniken gekannt und gezielte Unterstützung beziehungsweise Verlegungen organisieren können. Die jetzige ePA ist viel zu kompliziert und steckt in einer Sackgasse. Wir benötigen einen Neustart nach internationalen Vorbildern. © bee/aha/aerzteblatt.de

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