Medizin
Schwere Virusinfektionen könnten das Demenzrisiko erhöhen
Dienstag, 24. Januar 2023
Baltimore – Patienten, die wegen einer schweren Viruserkrankung im Krankenhaus behandelt wurden, erkranken in den Folgejahren häufiger an einer Reihe von neurodegenerativen Erkrankungen, die wichtige Ursachen einer Demenz im Alter sind. Dies kam in einer „Deep-Mining“-Analyse von zwei großen Kohortenstudien heraus, deren Ergebnisse in Neuron (2023; DOI: 10.1016/j.neuron.2022.12.029) veröffentlicht wurden. Deutsche Experten bewerten die Ergebnisse unterschiedlich.
Im vergangenen Jahr hatten Forscher zeigen können, dass US-Soldaten, die sich während ihrer aktiven Dienstzeit mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV) infiziert hatten, häufiger als andere später an einer Multiplen Sklerose erkrankten, wobei zwischen der Infektion und der Erkrankung im Mittel 7,5 Jahre vergingen. Die in Science (2022; DOI: 10.1126/science.abj8222) publizierten Ergebnisse wurden von Experten als der bisher stichhaltigste Beweis für die Hypothese bewertet, dass eine Infektion mit EBV die Autoimmunerkrankung triggern kann.
Ein Team um Mike Nalls vom US-„National Institute on Aging“ in Baltimore hat dies zum Anlass genommen, um nach weiteren Verbindungen zwischen Virusinfektionen und späteren Hirnerkrankungen zu suchen. Die erste Quelle war FinnGen. Die Datenbank hat Informationen zu etwa 300.000 Finnen zusammengetragen, von denen etwa 26.000 eine degenerative Hirnerkrankung wie Morbus Alzheimer, Morbus Parkinson oder eine amyotrophe Lateralsklerose hatten.
Die Forscher untersuchten, ob diese Personen davor häufiger als andere Personen wegen einer schweren Virusinfektion im Krankenhaus behandelt worden waren. Sie fanden 45 Assoziationen. Diese wurden dann an den Daten der UK Biobank überprüft, an der eine halbe Million Briten teilgenommen hatte. Die Forscher konnten 22 Assoziationen bestätigen.
Die stärkste Verbindung wurde zwischen einer viralen Enzephalitis und einem Morbus Alzheimer gefunden. Eine virale Enzephalitis ist eine sehr seltene, aber lebensgefährliche Erkrankung des Gehirns. Von den 406 Patienten in FinnGen waren 24 (5,9 %) später an einem Morbus Alzheimer erkrankt, der Anteil ist deutlich höher als in der Allgemeinbevölkerung.
Eine generelle Demenz (ohne bekannte Ursache) war mit 6 verschiedenen Viruserkrankungen assoziiert. Dies waren neben einer viralen Enzephalitis, virale Warzen, andere virale Erkrankungen, Influenzaerkrankungen, schwere Influenzafälle mit Lungenentzündung und virale Pneumonien. Die meisten Assoziationen (81 %) betrafen Viren, die über periphere Nerven oder die Blut-Hirn-Schranke das Gehirn erreichen können.
Für die Influenza wurden die meisten Assoziationen gefunden. Eine schwere Grippe, die zu einer Pneumonie geführt hatte, war mit allen neurodegenerativen Erkrankungen außer der Multiplen Sklerose assoziiert.
Eine weitere Analyse der FinnGen-Daten ergab, dass die neurologischen Erkrankungen häufig relativ frühzeitig nach der Viruserkrankung auftraten. Bei 16 der 22 Assoziationen war dies innerhalb eines Jahres der Fall. In der Folge schwächte sich die Assoziation ab, 6 Assoziationen waren aber auch noch 5 bis 15 Jahre nach der Viruserkrankung signifikant.
Diese Zeitabhängigkeit spricht nach Einschätzung von Experten dagegen, dass die Virusinfektionen der Auslöser der Erkrankung ist. Beim Morbus Alzheimer und auch beim Morbus Parkinson werden längere Latenzzeiten vom Beginn der Erkrankung bis zu den ersten Symptomen angenommen.
Harald Prüß, der am Deutschen Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Berlin eine Arbeitsgruppe Autoimmune Enzephalopathien leitet, könnte sich vorstellen, dass die Virusinfektionen eine Autoimmunreaktion auslösen, die die Hirnzellen schädigt und dadurch die Entwicklung einer Demenz fördert.
Solche Phänomene würden für die Pneumonie und auch für SARS-CoV-2 diskutiert. Auch die Enzephalitis lethargica, an der in den ersten Jahren nach der Spanischen Grippe viele Menschen erkrankten, könnte durch Autoantikörper ausgelöst worden sein. Für Prüß ist die Publikation in Neuron eine „sehr gute Studie“.
Auch Martin Korte vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig hält eine Verbindung von Virusinfektionen und degenerativen Hirnerkrankungen für möglich. Sein Forscherteam konnte in Mausmodellen zeigen, dass eine Grippeinfektion das Immunsystem im Gehirn aktivieren kann (Journal of Neuroscience 2018; DOI: 10.1523/JNEUROSCI.1740-17.2018).
Die Mikrogliazellen könnten dann in den folgenden Wochen und Monaten die Nervenzellen schädigen und damit das Risiko für neurodegenerative Erkrankungen erhöhen, glaubt Korte. Er hält die Publikation in Neuron für ein „methodisch starkes Paper mit einem guten Studiendesign“.
Der Neurologe Klemens Ruprecht, Oberarzt an der Berliner Charité, ist dagegen skeptisch. Er verweist darauf, dass aus einer Assoziation nicht zwingend auf eine Kausalität geschlossen werden könne. Die Tatsache, dass nur 22 von 45 Assoziationen aus FinnGen in der UK Biobank repliziert werden konnten, spreche dafür, dass es sich bei manchen der beschriebenen Assoziationen um falsch-positive Assoziationen handeln könne.
Ruprecht hält auch eine reverse Kausalität für möglich. Es sei denkbar, dass eine neurodegenerative Erkrankung die Patienten so weit schwäche, dass sie anfälliger für schwere Virusinfektionen würden. Für Ruprecht weist die Studie methodische Einschränkungen auf, und es „wäre aktuell verfrüht, weitreichende Schlüsse aus dieser Arbeit zu ziehen“.
Eine mögliche Konsequenz wäre, dass Impfungen, etwa gegen die jährliche Influenza, vor einer neurodegenerativen Erkrankung schützen. Dafür gibt es nach Ansicht von Klaus Überla, dem Direktor des Virologischen Instituts am Universitätsklinikum Erlangen, derzeit keinerlei Hinweise. Die Studie sei ein „wichtiger Anstoß in diese Richtung weiter zu forschen, unmittelbare Konsequenzen für Impfempfehlungen ergeben sich daraus jedoch nicht.“ © rme/aerzteblatt.de
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