Politik
„Gedenkkultur ist auch Bestandteil der Behandlungskultur“
Freitag, 27. Januar 2023
Berlin – Der 27. Januar ist in Deutschland seit 1996 der Tag des Gedenkens für die Opfer des Nationalsozialismus. Das Datum erinnert an das Jahr 1945, als das Vernichtungslager Auschwitz von den Alliierten befreit wurde. An diesem Tag wird zudem an die Opfer der sogenannten Krankenmorde gedacht.
Bundesweit gibt es an diesem Tag viele Gedenkveranstaltungen zur Erinnerung an die Getöteten, etwa in den ehemaligen Kranken- und Tötungsanstalten Pirna-Sonnenstein oder Hadamar sowie im Bundestag.
Der Psychiater Michael von Cranach weist im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt auf die Notwendigkeit des Erinnerns und der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit hin. Er erläutert zudem warum heutige Fachkrankenhäuser, die damals Orte des Verbrechens waren, ihre Geschichte aufarbeiten und historische Archive pflegen sollten.
Von Cranach setzt sich seit Jahrzehnten für die Aufarbeitung der Psychiatrie in der Zeit des Nationalsozialismus ein und hat viele Jahre zur Geschichte der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalten und ihre Rolle bei den Krankenmorden geforscht.
5 Fragen an Michael von Cranach zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus
Deutsches Ärzteblatt: Am 27. Januar wird den Opfern des Holocaust gedacht. Wie bewerten Sie die heutige Erinnerungskultur der Euthanasie-Opfer?
Michael von Cranach: Die Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Krankenmorden zwischen 1939 und 1945, denen 230.000 Menschen zum Opfer fielen, begann spät. Nach einer kurzen Phase der Dokumentation durch die Alliierten zur Vorbereitung der Nürnberger Ärzteprozesse, wurden diese Verbrechen verdrängt und verleugnet.
Es gab keine Zäsur, keinen Neuanfang in der Psychiatrie. Erst mit dem Beginn einer Psychiatriereform in den 1980er Jahren begann eine Auseinandersetzung durch eine neue Generation von Psychiatern, die die Kenntnis der Vergangenheit als Voraussetzung für das Gelingen der Reform sahen. Medizinhistoriker erforschten das Geschehene, Kliniken dokumentierten ihre Vergangenheit.
In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich das Gedenken schwerpunktmäßig den Opfern zugewandt, mit dem Ziel, sie individuell wieder in das kollektive und familiäre Gedächtnis zurückzubringen. An vielen Orten sind lokale Initiativen von Angehörigen und engagierten Bürgern entstanden, die Gedenkbücher mit der Namensnennung und Biographien der Opfer veröffentlicht haben.
Meilensteine des Gedenkens waren die offizielle Entschuldigung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie bei den Opfern im Jahr 2010 und die feierliche Gedenkstunde des Bundestages an diese Opfergruppe am 27. Januar 2017.
DÄ: Krankenhäuser, insbesondere Psychiatrien, die damals Orte des Verbrechens waren, sollen Ihrer Meinung nach historische Archive zur Erinnerung aufbauen. Sind Kliniken dieser Empfehlung bereits gefolgt?
von Cranach: Neben zentralen Gedenkorten sollten die damals beteiligten und heute noch aktiven Fachkrankenhäuser beim Aufbau eines Archivs auch finanziell unterstützt werden. Ein Großteil der erhaltenen Akten befindet sich dort.
Die heute nachfragenden Nachfahren der Opfer richten sich meist direkt an die Kliniken. Dort können sie nicht nur historisch, sondern auch psychisch im familiären Gedenkprozess begleitet werden. Punktuell gibt es schon einige derartige Archive, etwa im Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren oder im Bezirksklinikum Mainkofen.
DÄ: Wie können entsprechende Kliniken, etwa mit begrenzten personellen Ressourcen, einen Ort der Erinnerung aufbauen oder zur Erinnerung der Opfer beitragen, auch wenn sie kaum Mittel dafür aufwenden können?
von Cranach: Ich bin der Meinung, dass die psychiatrischen Fachkrankenhäuser, die damals an den Verbrechen beteiligt waren, eine Verpflichtung gegenüber ihren heutigen Patienten haben, ihre Auseinandersetzung mit der Vergangenheit offen zu legen.
Damit sollten sie das Eingeständnis ihrer Schuld, ihre Distanzierung sowie die Würdigung der Opfer deutlich machen. Das ist eine zentrale vertrauensbildende Maßnahme. So wird Gedenkkultur Bestandteil der Behandlungskultur.
DÄ: Welche Schritte braucht es, damit historische medizinische Akten aus der NS-Zeit erhalten und der Öffentlichkeit in Erinnerung an die Verbrechen zugänglich gemacht werden können?
von Cranach: Ein Verbot der Vernichtung dieser Akten, das sogenannte Kassationsverbot, wird dringend benötigt. Zudem braucht es die Information der Öffentlichkeit über die Zugangswege zu den Akten sowie eine qualifizierte Begleitung der nachfragenden Opfernachfahren sowie Unterstützung von Forschungsprojekten.
DÄ: 1947 wurde der Nürnberger Kodex mit zehn Prinzipien ärztlichen Handels im Falle von medizinischen Versuchen mit Menschen als Reaktion auf die Nürnberger Ärzteprozesse formuliert. Ist ein Verstoß gegen die medizinethischen Grundsätze heute wieder denkbar? Bitte erläutern Sie Ihre Antwort kurz.
von Cranach: Die Gefahr einer Wiederholung dieser Verbrechen kann ich mir in unserer Kultur nicht vorstellen. Doch „es ist passiert, also kann es wieder passieren“ (Primo Levi). Gedenkkultur ist nicht nur Ehrung der Opfer, sondern Erinnern und von der Vergangenheit lernen.
In vielen Ländern findet man aber noch eine deutliche Vernachlässigung bei der Betreuung psychisch kranker Menschen. Das zeigt auch die 2008 in Kraft getretene Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen, die Deutschland ebenfalls unterschrieben hat.
Die Konvention verdeutlicht die Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen. Die Vorsicht, mit der im Bundestag zurzeit die verschiedenen Aspekte zur Sterbehilfe diskutiert werden, ist für mich aber ein Beispiel dafür, dass wir von der Vergangenheit lernen. © cmk/aerzteblatt.de

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