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Politik

Bundestag erinnert an verfolgte sexuelle Minderheiten des Nationalsozialismus

Freitag, 27. Januar 2023

/picture alliance, Bernd von Jutrczenka

Berlin – Anlässlich des nationalen Gedenktags für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar veran­stal­tete heute auch der Bundestag eine Gedenkstunde. Insbesondere soll dieses Jahr an Menschen erinnert wer­den, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität verfolgt worden sind.

Zu Gast waren unter anderem die Holocaust-Überlebende Rozette Kats und der LGBT-Aktivist Klaus Schirde­wahn. Kats hielt ein eindringliches Pläydoyer für Toleranz. „Ich habe nicht vergessen, wie schlimm es ist, sich verleugnen und verstecken zu müssen“, sagte Kats vor den Abgeordneten.

„Jeder Mensch, der damals verfolgt wurde, verdient achtungsvolle Erinnerung. Jeder Mensch, der heute ver­folgt wird, hat Anspruch auf unsere Anerkennung und unseren Schutz.“ Kats wünschte sich „für unsere Kin­der“, dass jede Form von Diskriminierung nicht als normal, sondern als „schreckliche“ Abweichung empfunden werde, die es zu überwinden gelte.

Schirdewahn erklärte, dass er bis vor fünf Jahren als vorbestraft gegolten habe, weil er im Jahr 1964 als Sieb­zehnjähriger nach Paragrafen 175 des Strafgesetzbuches wegen der Liebe zu einem anderen Mann schuldig gesprochen worden war.

Dieser Paragraf sei im Jahr 1935 von den Nationalsozialisten verschärft worden und habe noch in der Bundes­republik bis 1969 gegolten. Abgeschafft worden sei der Paragraf im Jahr 1994. Aufge­ho­ben wurden die Schuld­sprüche im Jahr 2017. „Auch der Schuldspruch gegen mich“, berichtete Schirdewahn.

In 1960-ern sollten Homosexuelle „geheilt“ werden

Die einzige Möglichkeit, im Jahr 1964 eine Freiheitsstrafe abzuwenden, sei für Schirdewahn gewesen, eine Therapie zu beginnen, die ihn von seiner Homosexualität „heilen“ sollte. Diese Therapie habe ihm seine Ge­fühle, seine Lebensweise, seine Identität, sein Wesen abgesprochen und ein Doppelleben aufgezwungen. „Ich versuchte, nirgendwo anzuecken, es allen recht zu machen.“

Der Berichterstatter für die Belange von Menschen mit Behinderungen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und ehemalige Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Hubert Hüppe, erinnerte zudem an die „Aktion T4“, die in der Tiergartenstraße 4 ihren Anfang nahm, wo das NS-Vernichtungsprogramm an kran­ken Menschen und Menschen mit Behinderung geplant und organisiert wurde.

„Behinderte und kranke Menschen waren die ersten Opfer des nationalsozialistischen Massenmords. Sie sind oft als Opfergruppe in Vergessenheit geraten. Die abscheuliche Selektion im Rahmen der sogenannte ‚Aktion T4’ ist Warnung und Mahnung auch nach 83 Jahren“, betonte Hüppe. „Kern des Euthanasiegedankens war, dass es Menschen gibt, für die es besser wäre nicht weiterzuleben, weil ihre Existenz für sie selbst und die Gesell­schaft eine unzumutbare Last ist.“

Eine wirklich humane Gesellschaft müsse sich durch Hilfe zum Leben, Zuwendung, Solidarität mit Schwachen und Kranken sowie eine intakte Immunabwehr gegen jedes „Lebensunwert“-Gedankengut auszeichnen. Das heutige Gedenken stehe auch im Zusammenhang mit aktuellen bioethischen Debatten. So spiele der Be­griff „Lebensqualität“ häufig bei der Diskussion um die geschäftsmäßige Beihilfe zur Selbsttötung eine große Rolle.

„Bei der vorgeburtlichen Diagnostik, die massiv finanziert wird, steht nicht die Therapie, sondern die Selek­tion ungeborener Kinder mit Behinderungen im Vordergrund. Fast immer führt die Feststellung einer Behin­derung zur Abtreibung“, sagte Hüppe. Der gesellschaftliche Druck auf werdende Eltern, die Möglichkeiten der pränata­len Frühdiagnostik in Anspruch zu nehmen und ausschließend die Konsequenzen entsprechend zu zie­hen, steige stetig.

Der Psychiater Michael von Cranach sagte dem Deutschen Ärzteblatt, dass sich die meisten nachfragenden Nach­fahrer der Opfer der Krankenmorde heute direkt an die Kliniken wendeten, die damals Orte des Verbre­chens gewesen seien. Die Psychiatrien sollten deshalb historische Archive aufbauen, um die Akten der Betrof­fe­nen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und Nachfahren von Opfern auch im familiären Gedenprozess zu beglei­ten.

„Gedenkkultur ist auch Bestandteil der Behandlungskultur“

Berlin – Der 27. Januar ist in Deutschland seit 1996 der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Das Datum erinnert an das Jahr 1945, als das Vernichtungslager Auschwitz von den Alliierten befreit wurde. An diesem Tag wird zudem an die Opfer der sogenannten Krankenmorde gedacht. Bundesweit gibt es an diesem Tag viele Gedenkveranstaltungen zur Erinnerung an die Getöteten, etwa in [...]

„Ich bin der Meinung, dass die psychiatrischen Fachkrankenhäuser, die damals an den Verbrechen beteiligt waren, eine Verpflichtung gegenüber ihren heutigen Patienten haben, ihre Auseinandersetzung mit der Ver­gan­genheit offen zu legen“, betonte von Cranach. „Damit sollten sie das Eingeständnis ihrer Schuld, ihre Distanzierung sowie die Würdigung der Opfer deutlich machen. Das ist eine zentrale vertrauensbildende Maßnahme. So wird Gedenkkultur Bestandteil der Behand­lungskultur.“

Die Unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, Ferda Ataman, sieht im Gedenken an sexuelle Minderheiten ein „enorm wichtiges Zeichen“. Deutschland erweise den queeren Opfern des National­sozia­lis­mus endlich den lange verweigerten Respekt.

„Das war seit vielen Jahren überfällig. Der Hass und die Verfolgung sexueller und geschlechtlicher Minder­heiten waren mit der Befreiung von der NS-Diktatur nicht zu Ende“, sagte Ataman. „Um aus der Geschichte zu lernen, müssen wir das Unrecht kennen und benennen, wir müssen es weiter erforschen und beschreiben, welche Missstände es bis heute gibt.“ © dpa/cmk/EB/aerzteblatt.de

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