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„Es ist ein schockierender Anblick, der einen nicht loslässt“

Sonntag, 26. Februar 2023

Iskenderun - Cihan Çelik ist eigentlich als Oberarzt auf der Isolierstation für Covid-19-Kranke im Klinikum Darmstadt und als Sektionsleiter Pneumologie tätig. Nach dem furchtbaren Erdbeben in der Türkei und Syrien ist er auf eigene Faust in das Erdbebengebiet in die türkische Hafenstadt Iskenderun gereist, um vor Ort zu helfen.

5 Fragen an Cihan Çelik, Facharzt für Innere Medizin und Pneumologie, Sektionsleiter Pneumologie am Klinikum Darmstadt, aktuell im türkischen Erdbengebiet

Wo arbeiten Sie aktuell und wie haben Sie den Kontakt hergestellt, um dort zu helfen?

Es war von Vorteil, türkisch zu sprechen und auch abseits der offiziellen Wege Verbindungen herstellen zu können. Im Chaos nach dem Beben war die Koordination über die regulären Stellen nicht einfach. Ich habe über die sozialen Medien den Kontakt zu einem privat organisierten Feldkrankenhaus hergestellt, dessen ärztlicher Leiter froh über fachärztliche Hilfe war.

Ich bin dann am nächsten Tag auf eigene Faust und mit Ausrüstung und Medikamenten nach Adana geflogen, habe ein Auto gemietet und bin in das Erdbebengebiet gefahren. Mittlerweile habe ich in wechselnden Schichten in verschiedenen Feldkrankenhäusern in Iskenderun, Antakya und auf dem Lazarettschiff, das im Hafen von Iskenderun anliegt, Patienten versorgt. Dazwischen fahre ich in die Zeltdörfer und frage, ob es medizinischen Bedarf gibt. In das Feldkrankenhaus in Iskenderun kommen ungefähr 300 Patieten täglich.

Hier arbeiten freiwillige Pflegekräfte und Ärzte aus verschiedenen Fachrichtungen. Derzeit haben wir einen Allgemeinchirurgen, Kinderchirurgen, Orthopäden, Neurologen, MKG-Chirurgen, Internisten und natürlich auch Ärzte mit notfallmedizinischer Ausbildung. Dazu kommen zahllose logistische Helfer, Fahrer, Apotheker, Tierärzte und viele mehr. Es ist ein buntes Team, in dem es täglich Fluktuation gibt, da viele ja noch einen Job haben. Die meisten kommen aus dem Westen der Türkei.

Wie ist dieses Feldkrankenhaus ausgestattet?
Wir bauen die Ausstattung täglich weiter aus, es kommen Lieferungen aus der ganzen Welt mit Medika­menten und Equipment. Fachärzte aus der Türkei und dem Ausland verstärken das Team. Wir haben fünf Untersuchungseinheiten, ein Monitorbett, ein Behandlungsplatz für Wundversorgungen und zehn Betten für Kurzzeitbehandlungen. Wir haben kein Labor und leider warten wir noch auf das Ultraschallgerät und ein BGA Gerät. Falls wir nicht weiterkommen, verlegen wir in eine 60 Minuten entfernte Klinik.

Was haben Sie dort an Zerstörungen vorgefunden, wie geht es den Einwohnern?
Das ist kaum in Worte zu fassen. Es ist surreal. Eine große Stadt wie Antakya liegt in Trümmern. Kleine und große Gebäude, keines ist bewohnbar. Sowas kennt man nur aus Filmen. Das ist die am schwersten betroffene Stadt, da sie in einem Tal mit weichem und beweglichen Boden liegt. Die Städte in den Bergen von Hatay haben weniger Schäden, aber auch da wohnen die Menschen in Zelten. In Iskenderun sind viele Gebäude zerstört und haben Menschen begraben. Es ist ein schockierender Anblick, der einen nicht loslässt. Und nach fast drei Wochen hängt der Geruch von Verwesung deutlich über vielen noch ungeräumten Trümmern. Es ist furchtbar.

Fast jeder hier hat Angehörige verloren. Ein Patient erzählte mir, dass er 18 Familienmitglieder verloren hat. Das Leben dieser Menschen hat sich in wenigen Sekunden komplett verändert. Sie haben ihre Liebsten verloren, leben auf der Straße, oft mit ihren kleinen Kindern. Ich kann dazu auch keine professionelle Distanz mehr wahren, manchmal weinen wir gemeinsam. Auch für die Helfer ist das eine Ausnahmesituation.

Welche Diagnosen und Behandlungen gehören zur Tagesordnung?
Wir behandeln sehr viele Kinder, aber auch Erwachsene bei uns mit Infekten der oberen Atemwege und Magen-Darm Infektionen. Exazerbationen von chronischen Erkrankungen behandeln wir auch häufig, da die Menschen ihre Hausmedikation oft nicht mehr eingenommen haben seit dem Beben. Dazu kommen Menschen mit Verletzungen, die seit dem Beben schlecht heilen, wie infizierte Wunden oder Rippenbrüche und Prellungen. Wir haben auch schon Scabies gesehen und leider nachts auch viele Panikattacken, insbesondere nach einem erneuten Nachbeben.

Was fehlt am meisten an Unterstützung vor Ort?
Die Koordination von Ressourcen wie Personal und Equipment muss schnell verbessert werden. Ich bin direkt zu den Kollegen in den Feldkrankenhäusern gefahren, um sie nach Unterstützungsbedarf zu fragen. Sie waren häufig überarbeitet und immer sehr dankbar über Unterstützung. Aber auf dem Papier gäbe es genug ärztliches Personal im Erdbebengebiet, daher wurden auf offiziellem Weg keine Freiwilligen mehr aufgenommen. Diese Diskrepanz muss aufgelöst werden. Darüber hinaus gilt es jetzt, die Menschen medizinisch zu versorgen, bevor sie notfallmäßig ins Krankenhaus müssen. Die Zeltstädte und Containerdörfer werden erstmal bleiben, da braucht es eine andauernde medizinische Betreuung. © mis/aerzteblatt.de

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