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Medizin

„Es muss jetzt ein übergreifendes System entwickelt werden“

Samstag, 11. März 2023

Berlin – In einem Positionspapier fordern Fachleute ein Netzwerk für die genomische Überwachung von Erregern. Während der COVID-19-Pandemie fand bereits eine Genomische-Erreger-Surveillance (GES) statt. Die Forschenden von GenSurv (Genomic Pathogen Surveillance and Translational Research) erhoffen sich durch eine bessere Vernetzung eine frühzeitigere Eindämmung von zukünftigen Pandemien und ein besseres Verständnis auch für bekannte Erreger wie Influenza oder multiresistente Keime.

GenSurV ist ein Projekt des Netzwerks Universitätsmedizin (NUM), dem Robert-Koch-Institut (RKI), dem Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) und weiteren Forschungsinstitutionen und Organisationen und wird vom Bildungsministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanziert.

Was genau die Genomische Erreger-Surveillance ist und wie ein solches Netzwerk die Gesundheitsversorgung verbessern könnte, hat Simone Scheithauer von GenSurV, stellvertretend für die gesamte Expertengruppe, dem Deutschen Ärzteblatt berichtet.

5 Fragen an Simone Scheithauer, Direktorin Institut für Krankenhaus­hygiene und Infektiologie Universitätsmedizin Göttingen

Können Sie den Begriff Genomische Erreger-Surveillance erläutern?
Simone Scheithauer: Bei der Genomischen Erreger-Surveillance (GES) wird der Informationsgehalt des gesamten Erbguts von den human­pathogenen Infektionserregern (zum Beispiel des SARS-CoV-2 Virus oder von antibiotikaresistenten Erregern) bestimmt, um wesentliche Erbmerkmale wie beispielsweise Resistenz- oder Virulenzgene sicht­bar zu machen. Für SARS-CoV-2 haben wir die Erregerdaten dazu aus respiratorischem Material genutzt.

Erregergenome lassen sich je nach Erreger aus allen diagnostisch relevanten Materialien gewinnen: zum Beispiel Blutkulturen, Wund­abstriche, Urin. Neben Patientenmaterial lässt sich die Genomsequen­zierung auch in anderen Materialien, wie dem Abwasser oder aus Materialien, die bei Beprobung von Medizinprodukten, wie Endos­kopen, gewonnen werden, durchführen.

Mit Hilfe dieser Daten und weiteren epidemiologischen Informatio­nen wie etwa Abnahmezeitpunkt und -ort kann so nachvollzogen werden, ob sich bestimmte Erregervarianten lokal, regional oder (inter-)national verbreiten und wie diese mit zum Beispiel der Krankheitsschwere asso­ziiert sind. Dieses Wissen kann dann für gezieltere Gegenmaßnahmen zur Eindämmung der Verbreitung bestimmter Varianten genutzt werden.

Darüber hinaus können gegebenenfalls Charakteristika, die für die Impfstoffentwicklung relevant sind, extra­hiert und frühzeitig genutzt werden. Das Entscheidende der GES ist, dass sie kontinuierlich/fortlaufend und prospektiv durchgeführt wird, um im Bedarfsfall auf aktuelle Daten zugreifen zu können. Es ist eine der zu beantwortenden Herausforderungen des GES-Teams, welche Erreger priorisiert per GES erfasst werden sollten und wie viele Erreger je nach Art sowie Situation erforderlich sind, um die wichtigen Fragen beantworten zu können.

Was würde durch eine solche Genomische-Erreger-Surveillance in einer zukünftigen Pandemie anders laufen als in der COVID-19-Pandemie?
Scheithauer: Durch die Etablierung und den Ausbau eines nationalen Netzwerks für GES können, im Falle einer zukünftigen Pandemie, systematisch Daten zu Erregergenomen, ihrem Auftreten sowie der Verbreitung frühzeitig erhoben und zur Verfügung gestellt werden. Darüber hinaus ermöglicht die GES es auch, den Be­ginn einer epidemischen Ausbreitung besser zu erkennen und so direkt Informationen zu Übertragungswegen zu ziehen.

Sobald Daten in Echtzeit vorliegen, können beispielsweise Mutationen am Rezeptor, welche die Transmissibilität, also die Übertragbarkeit, erhöhen, umgehend identifiziert werden. Auch die möglichen Auswirkungen auf die Wirksamkeit bestehender Impfstoffe bei neuen Viruslinien können frühzeitig erkannt und die genomi­schen Daten können zur Weiterentwicklung von Impfstoffen genutzt werden. Untersuchungen zu Häufungen von Mutationen in der Gesamtpopulation können sehr früh Hinweise auf die Verbreitung von neuen Varianten geben.

Außerdem ist die genaue Kenntnis der regional vorherrschenden Virusvarianten in Echtzeit zum Beispiel essenziell, um in der Notaufnahme zu entscheiden, ob und welcher monoklonale Antikörper gegen SARS-CoV-2 eingesetzt werden soll. Dies alles ermöglicht es, zielgenauere (Präventions-)Maßnahmen einzuleiten. Hier­durch kann wertvolle Zeit gewonnen und die Verbreitung sowie die damit verbundenen Infektionen, mögli­chen Todesfälle oder anderen gesellschaftlichen Folgen, können frühzeitig eingedämmt werden.

Auch unabhängig von einer Pandemie durch einen neuen Erreger ist die GES ein wertvolles Werkzeug. So kann sie zum Beispiel ein besseres Verständnis zur Evolution und Übertragung von Influenzaviren oder multiresistenten bakteriellen Erregern, insbesondere Carbapenem-resistenten Enterobacterales, bieten, um hier die Aussagekraft von Überwachungssystemen („Radar“) und Präventionsmaßnahmen zu optimieren.

Bei multiresistenten bakteriellen Erregern kann früh bestimmt werden, welche Resistenzgene vorhanden und welche Antibiotika somit nicht oder eben möglicherweise doch therapeutisch wirksam sind. Um ein weiteres aktuelles Beispiel zu nennen, kann die GES im Hinblick auf einen möglichen Impfstoff gegen das Respirato­rische Synzytial-Virus bei der rechtzeitigen Detektion eventueller Vaccination Escapes unterstützen.

In Ihrem Papier schreiben Sie, dass bereits existierende Strukturen genutzt werden sollten und andere neu geschaffen werden müssen. Welche bereits in Deutschland existierenden Strukturen sollten genutzt werden? Welche müssten neu geschaffen werden?
Scheithauer: In Deutschland sollen natürlich alle bisher schon geschaffenen Strukturen bestmöglich genutzt und weiterentwickelt werden. Zuallererst zu nennen sind die durch das Robert-Koch-Institut (RKI) initiierten Strukturen im Rahmen der integrierten genomischen Surveillance, aber natürlich auch die über das Netzwerk Universitätsmedizin (NUM) in GenSurv etablierte Genomische-Erreger-Surveillance.

Diese beiden Strukturen arbeiten bereits eng miteinander zusammen. Das Netzwerk ist grundsätzlich offen angelegt und kann um weitere wichtige Stakeholder wie zum Beispiel Universitätskliniken und Labore er­gänzt werden. Sowohl die Labore im Bereich des ÖGD als auch universitäre und private Labore verfügen in den meisten Fällen bereits über die technische Ausstattung und Fähigkeit, Genomsequenzierungen durchzu­führen. Wichtig und bisher noch nicht überall vorhanden ist eine strukturierte Vorgehensweise, die festlegt, welche Erreger wann und wie analysiert werden und wie diese Daten übergreifend zusammengeführt werden können, um daraus die erforderlichen Schlussfolgerungen ziehen zu können.

Hier ist eine strukturierte Vernetzung mit dem ÖDG auf verschiedenen Ebenen essenziell, wie exemplarisch in MolTraX (Molecular Surveillance and Infection Chain Tracing for Local Public Health Authorities NUM) bereits initiiert. Das übergeordnete Ziel von MolTraX ist es, die effektive Nutzung der genomischen Surveillance durch lokale Gesundheitsbehörden zu ermöglichen und die entwickelten Ergebnisse in die GenSurv-Infra­struktur zu integrieren.

Die Pandemie hat bei der GES von SARS-CoV-2 gezeigt, dass eine dezentrale Analyse mit den vorhandenen Strukturen in Deutschland funktionieren kann. Es muss jetzt ein übergreifendes System entwickelt werden, um einen sicheren, datenschutzkonformen Datenaustausch unter Wahrung möglicher Rechte der Einzelnen zu ermöglichen. Nur dann ist auch eine entsprechende Akzeptanz des Systems bei allen Beteiligten zu erreichen. Perspektivisch sollen auch Strukturen, die eine GES an der Schnittstelle zur Humanmedizin betreiben, wie zum Beispiel das MiGenomeSurv-Netzwerk, im Sinne des One-Health-Ansatzes einbezogen werden.

Was genau müsste sich in Deutschland ändern, damit die Erreger-Surveillance durchgeführt werden kann?
Scheithauer: Wir haben bereits durch die Pandemie einige gute Voraussetzungen für dieses Netzwerk. Wichtig ist jedoch das klare Mandat aus der Politik, diese bereits etablierte Kristallisationsstruktur weiter auszubauen und strukturierte, eng mit der Politik abgestimmte weitere Schritte zu gehen. Essenziell ist eine nachhaltige Finanzierung, um die Voraussetzungen der technischen, personellen und fachlichen Nachhaltigkeit zu ge­währ­­leisten. Eine solche Plattform funktioniert nur, wenn sie dauerhaft betrieben und genutzt wird. Wün­schenswert wäre, dass sich der Bund hier jenseits der üblichen Modalitäten der Projektförderung dauerhaft engagiert.

Darüber hinaus müssen klare Regeln zur Nutzung der Daten erstellt werden. Die datenschutzrechtlichen An­forderungen sollten, wie in vielen anderen Ländern auch, mit Augenmaß gestaltet werden. Für die Erreger-Surveillance werden keine sensiblen Patientendaten genutzt. Wir sollten es daher niedrigschwellig ermögli­chen, dass möglichst viele Einrichtungen ihre Daten in die Surveillance-Plattform einbringen können.

Wurden für eine GES bereits erste Schritte bereits in die Wege geleitet?
Scheithauer: Nachdem bereits in drei durch das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) geförderten Projek­ten bis 2022 Prototypen für eine sektorenübergreifende, integrierte genomische Surveillance entwickelt wurden, läuft jetzt seit etwa einem Jahr ein weiteres, vom BMG gefördertes Pilotprojekt zur Etablierung der erregerübergreifenden integrierten genomischen Surveillance am RKI. Die ebenfalls vorher bereits erwähnten Projekte GenSurv und MolTraX im NUM werden vom Bundesforschungsministerium (BMBF) gefördert.

Eine gemeinsame Beauftragung durch BMG und BMBF wäre also sinnvoll und fördert die Vernetzung noch weiter. Aus diesem Grund hat die Expertinnen- und Expertengruppe dem BMG und BMBF Ende letzten Jahres ein sogenanntes White Paper vorgelegt, welches die Dringlichkeit und Relevanz der Etablierung eines GES-Netzwerkes in Deutschland unterstreicht. Aus beiden Ministerien kamen positive Rückmeldungen und wir werden hier einen weiteren Austausch anstreben.

Die Koordination eines GES-Netzwerkes sollte in einer Gruppe liegen, die politische Akteure, die Fachlichkeit der Universitätskliniken für humanmedizinische Fragestellungen in dem Bereich der Infektionsprävention und -epidemiologie sowie das RKI und den öffentlichen Gesundheitsdienst der Länder und auch private Labore berücksichtigt. © mim/aerzteblatt.de

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