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Politik

Ethikrat priorisiert patientenorientierte Gesundheits­datennutzung

Donnerstag, 23. März 2023

/greenbutterfly, stock.adobe.com

Berlin – Gesundheitsdaten werden für die medizinische Forschung immer noch viel zu wenig genutzt. Dabei wäre ihre Verwendung teilweise bereits rechtlich erlaubt und im Sinne des Patientenwohls sogar geboten. In diesem Punkt waren sich gestern Abend die Teilnehmenden des öffentlichen Forums Bioethik des Deutschen Ethikrates zum Thema „Patientenorientierte Datennutzung“ einig.

„Gesundheitsdaten bergen ein enormes Potenzial für das Patientenwohl, wenn sie nur genutzt werden können. Damit dies möglich ist, brauchen wir nicht weniger Datenschutz, sondern dessen bessere Umsetzung“, betonte Alena Buyx, Vorsitzende des Deutschen Ethikrates. Dieser hatte nach Berlin eingeladen, um interdisziplinär zu diskutieren, wie Gesundheitsdaten im Einklang mit dem Datenschutz für die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung, die Personalisierung von Behandlungen und für die Forschung besser nutzbar gemacht werden können. In anderen europäischen Ländern ist dies bereits üblich, denn die europäische Datenschutz-Grundverordnung erlaubt grundsätzlich die Nutzung von Gesundheitsdaten.

„Das Gefühl wächst, dass wir beim Wahren der Balance zwischen Chancen und Risiken der Datennutzung bisher zu sehr auf die Risiken geschaut haben“, sagte Buyx. Es sei jetzt an der Zeit, Initiativen in die Umsetzung zu bringen. Dem Ethikrat gehe es dabei ausdrücklich nicht darum, den Datenschutz zu schwächen, sondern die Bedingungen für die Forschung zum Wohl der individuellen Patientinnen und Patienten als auch der Gemeinschaft zu verbessern. „Null Risiko wird es nie geben. Wir brauchen eine gute Balance“, so Buyx.

Datenschutz sollte keine Hürde sein

Der Datenschutz sollte Buyx zufolge keine Hürde sein, sondern Teil des Lebens- und Gesundheitsschutzes und damit ein wichtiges Element bei der Datennutzung. Mit Schwierigkeiten beim Datenschutz haben dennoch viele zu kämpfen - auch dies wurde gestern Abend bei der Diskussion mit dem Publikum deutlich. Sowohl Ärztinnen und Ärzte als auch Patientinnen und Patienten beschreiben derzeit noch viele Hürden, wenn sie Gesundheitsdaten verwenden beziehungsweise weitergeben wollen. Insbesondere besteht bei vielen Beteiligten eine große Unsicherheit, wie und in welchem Umfang Patientendaten genutzt werden dürfen.

Die Sorge vor Fehlern führe vielfach zu einer „zu restriktiven Handhabung des Datenschutzes“, sagte der Arzt und Forscher Tobias B. Huber, Ärztlicher Leiter des Zentrums für Innere Medizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). Selbst positive Einstellungen zur Datenfreigabe und -nutzung liefen oftmals ins Leere, weil Einwilligungserklärungen in die Datennutzung häufig so lang seien, dass die viele Patientinnen und Patienten sie ungelesen unterschreiben oder einfach ablehnen würden. Nach seiner Erfahrung spiele derzeit das Krankenhausumfeld, die Empathie des Arztes und möglicherweise das Gefühl, moralisch verpflichtet zu sein, oder die Hoffnung, bevorzugt behandelt zu werden, eine große Rolle bei der Freigabe von Daten. Dies sei jedoch ethisch fragwürdig.

Huber plädierte deshalb für eine Vereinfachung: So könnten Patienten und Patientinnen schon bei Aufnahme in eine Klinik per Unterschrift ihre Einwilligung erteilen, dass Daten und Biomaterial, sofern sie nicht mehr für die Diagnostik gebraucht werden, pseudonymisiert für akademische Forschungszwecke zur Verfügung gestellt werden können. Diese Einwilligung sollte auch jederzeit widerrufen werden können. „Datennutzung und Datenschutz sind zentral“, sagte er. „Jetzt ist der Zeitpunkt, wo wir uns diesen Fragen stellen müssen.“ Bei allen Überlegungen müsse aber der Mensch im Mittelpunkt stehen.

Chancen nutzen

Patrick Schloss, Vorsitzender der ILCO Baden-Württemberg e. V., einer Selbsthilfeorganisation für Menschen mit künstlichem Darmausgang oder künstlicher Harnableitung, Darmkrebsbetroffene und deren Angehörige, sieht die Nutzung der Daten eindeutig als Chance. „Die wissenschaftliche Auswertung klinischer Daten ermöglicht eine Verbesserung der Patientenversorgung, der Entwicklung und Optimierung von therapeutischen Interventionen und der Kosteneffizienz“, ist er überzeugt.

Die Datennutzung habe aber auch eine menschliche Komponente: Leider hätten strengere Datenschutz­auflagen die Kontaktaufnahme von Selbsthilfegruppe zu neuen Betroffenen erschwert, berichtete er. Und direkt nach einer Diagnose oder der OP seien viele aus Überforderung mit der neuen Situation nicht in der Lage, eine Selbsthilfegruppe zu kontaktieren.

Auch Anne Riechert, Professorin für Datenschutzrecht und Recht in der Informationsverarbeitung an der Frankfurt University of Applied Sciences und langjährige Wissenschaftliche Leiterin der Stiftung Datenschutz, plädierte für eine Ausweitung der Datennutzung, wies jedoch gleichzeitig auf die große Bedeutung der Einwilligung in die Datenverarbeitung hin. Zwar könne das Transparenzgebot eine Hürde darstellen, räumte sie ein. Die Einwilligung in die Verarbeitung von sensitiven Daten, wie Gesundheitsdaten, unterliege aber strengen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen. Obwohl Forschungszwecke privilegiert seien, würden erhöhte Anforderungen an die Verarbeitung von Gesundheitsdaten zu Forschungsvorhaben ohne Einwilligung gelten.

Für Sylvia Thun, Professorin für Digitale Medizin und Interoperabilität am Berlin Institute of Health (BIH) der Charité – Universitätsmedizin Berlin, ist die verstärkte Nutzung der Gesundheitsdaten in Deutschland längst überfällig. „Medizinische Entscheidungsfindung ist eine komplexe Aufgabe und mittlerweile kaum mehr von einem Menschen zu leisten“, sagte sie. „Wir brauchen digitale Daten und IT-Standards. Wir müssen in Deutschland – im Land der Dichter und Denker – endlich über Technologien reden.“

Für die Medizinerin und Informatikerin sind die bereits in großen Stil anfallenden Gesundheitsdaten die Grundlage für die Automatisierung und Verbesserung von Prozessen in Behandlungseinrichtungen und für die Entwicklung von Medikamenten. „Durch sie wird Patientinnen und Patienten eine bessere Gesundheits­versorgung geboten“, betonte Thun. Der Datenaustausch sollte nach ihrer Ansicht über den neuen Standard „FHIR“ (Fast Healthcare Interoperability Resources) gestaltet werden, der den Datenaustausch zwischen Softwaresystemen im Gesundheitswesen sicher unterstützen könne.

Interoperabilität zentrale Voraussetzung

Zudem brauche es Interoperabilität, um Daten sicher transferieren zu können. Daten müssten FAIR sein, wobei sich FAIR auf findable, accessible, interoperable, reusable bezieht. „Das bedeutet, dass Daten in einer hohen Qualität verfügbar sind und genutzt werden dürfen. Diese Interoperabilität ist die Voraussetzung dafür, dass Daten auf standardisierte Weise organisations- und grenzüberschreitend zwischen Forschungsabteilungen und -einrichtungen über IT-Systeme ausgetauscht und verwertet werden können“, erläuterte sie.

Dirk Lanzerath, Professor für Philosophie an der Universität Bonn und Vorstandsmitglied der Zentralen Ethikkommission (ZEKO) bei der Bundesärztekammer, betonte die Rolle der Ärztinnen und Ärzte bei der Nutzung von Gesundheitsdaten. Es ginge bei der Diskussion nicht nur um individuelle Patientenautonomie und Datensouveränität sowie den Gemeinsinn zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung, sondern auch um ein „Systemvertrauen, das leicht verspielt werden kann“. Keinesfalls dürfe die Datenerhebung zulasten der Menschen gehen. Zeit sei bereits jetzt im Arzt-Patient-Verhältnis ein Mangelfaktor, der nicht durch erhöhte Dokumentation noch stärker eingeschränkt werden darf“, betonte er. „Zudem darf das geschützte Arzt-Patienten-Verhältnis nicht zum gläsernen Raum werden“, warnte Lanzerath.

Datenspende und Datenschutz müssten das Systemvertrauen wahren. „Hierfür reicht ein informed consent alleine nicht aus, sondern es sind an verschiedenen Stellen ethisch relevante Mechanismen, wie etwa funktionierende und unabhängige Treuhandstellen und Ethikgremien einzubinden“, sagte er und verwies auf die vor wenigen Wochen von der ZEKO im Deutschen Ärzteblatt veröffentlichte Stellungnahme zur „Bereitstellung und Nutzung von Behandlungsdaten zu Forschungszwecken“.

Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, Ulrich Kelber, betonte bei der Podiumsdiskussion, dass die Einhaltung datenschutzrechtlicher Vorgaben und die Verfügbarkeit sowie Verarbeitung von Gesundheitsdaten nicht im Widerspruch stehe. „Die Datenschutzdebatte darf nicht als Stellvertreterdebatte dienen“, forderte er. Die Datennutzung werde sehr oft nicht durch den Datenschutz, sondern durch andere Umstände be- oder verhindert.

„Ich bin für mehr Nutzung der Daten“, erklärte er. Aber beim Schutz dürften keine Kompromisse gemacht werden. „Durch klare Regelungen und deren Umsetzung können unnötige Einschränkungen in der Datennutzung vermieden und ein Gleichgewicht zwischen Datenschutz, Behandlung und Forschung erreicht werden“, betonte Kelber. Im Mittelpunkt stehe die Souveränität der Betroffenen. Sie dürften nicht zu einem bloßen Objekt der Datenverarbeitung degradiert werden. Besonders wichtig sei dies bei sensiblen Gesundheitsdaten, die aus einem vertrauensvollen Arzt-Patienten-Verhältnis stammten. Den Gesetzgeber sieht er in der in der Pflicht, für einheitliche, anwendbare Vorgaben zu sorgen.

Diese Aufgabe werde gerade priorisiert, erklärte Susanne Ozegowski. Die Abteilungsleiterin für Digitales im Bundesgesundheitsministerium baut darauf, dass Daten zeitnah umfassend für die Versorgung, Forschung und die Weiterentwicklung des Gesundheitssystems genutzt werden können. Die Bundesregierung wolle mit ihren aktuellen Vorhaben die digitale Transformation vorantreiben. „Wir schaffen rechtliche und institutionelle Grundlagen für eine bessere Verfügbarkeit von Gesundheitsdaten, um international sowohl in der Forschung als auch als Innovationsstandort wettbewerbsfähig zu bleiben und medizinische Versorgung auf Spitzenniveau anbieten zu können“, sagte sie. Forschung dürfe nicht länger nur mit ausländischen Daten möglich sein.

Ziel des Gesundheitsdatennutzungsgesetzes (GDNG) sei der Aufbau einer dezentralen Gesundheitsdaten­infrastruktur, die die Anschlussfähigkeit an den zukünftigen Europäischen Gesundheitsdatenraum ermögliche. Dabei sollen Daten aus verschieden Quellen und Sektoren verknüpfbar gemacht werden, um alle Informationen aus der Gesundheitsversorgung zusammenzuführen. © ER/aerzteblatt.de

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